13. Raketenwahn

Neben der Niederlage in Stalingrad, die auch den Rückzug der deutschen Truppen aus dem Kaukasus erzwang, geriet das Afrika-Korps unter General Erwin Rommel in Nordafrika in Bedrängnis. Auch hier zeichnete sich die Niederlage bereits ab, noch bevor es am 8. November 1942 zur Landung alliierter Truppen an den Küsten von Marokko und Algerien kam.

Hitler hatte bis dahin dem Peenemünder Raketenprogramm ein eher marginales Interesse entgegengebracht. Die schnellen militärischen Erfolge der ersten Jahre ließen keinen Bedarf an einer Raketenwaffe aufkommen. Zeitweise stand Peenemünde sogar vor dem Aus, da die Rohstoffzuteilung zugunsten der konventionellen Waffenproduktion stark eingeschränkt worden war. Aber Peenemünde hatte immer einflussreiche Fürsprecher, die, oft an Hitler vorbei, dafür sorgten, dass in Peenemünde die Arbeit weiterging.

Doch in der prekären militärischen Lage, die sich gegen Ende 1942 abzeichnete, zeigte sich Hitler an der Rakete „lebhaft interessiert“, wie Albert Speer, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, und als solcher auch zuständig für Peenemünde, in seinen Erinnerungen schreibt.

Speer hatte den Befehl zur Serienfertigung des Aggregat 4 bereits ausgearbeitet; am 22. Dezember 1942 ließ er ihn von Hitler unterzeichnen, „obwohl“, so Speer, „die Rakete noch keineswegs zur Serienreife entwickelt war. Ich glaubte, das damit verbundene Risiko auf mich nehmen zu können, denn nach dem damaligen Stand der Entwicklung und nach den Versprechungen von Peenemünde mußten die endgültigen technischen Unterlagen rechtzeitig bis zum Juli 1943 [dem geplanten Beginn der Serienfertigung] zur Verfügung stehen“.

Um das Aggregat 4 von der Entwicklung in die Serie zu bringen, bei jedem technischen Großgerät ein langwieriger Prozess, rief Speer den Sonderausschuß A4 ins Leben. Als Leiter setzte er Gerhard Degenkolb ein, eine „rücksichtslose und autoritäre Persönlichkeit. Er hatte sich seinen Ruf damit erworben, daß er die Lokomotivenproduktion angekurbelt hatte, als das europaweit expandierende Deutschland 1942 verzweifelt mit Transportproblemen kämpfte.“

Aufgabe des Ausschusses war es, das Aggregat 4 als Kriegswaffe zu optimieren, wozu neben der Fertigung in großen Stückzahlen auch die Ausarbeitung und Erprobung der Logistik beim Kampfeinsatz gehörte, etwa die Bereitstellung von Treibstoffen und Startanlagen sowie die Ausbildung von Heereseinheiten für den Einsatz der neuen Waffe im Feld.

Schon im Januar 1943 nahm der Ausschuss seine Arbeit auf.

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Zur gleichen Zeit begannen sich in England die Gerüchte um ein deutsches Geheimwaffenprojekt an der Ostseeküste zu verdichten. Bereits 1939 wurde der englischen Abwehr von einem „wohlgesinnten deutschen Wissenschaftler“ der so genannte Oslo-Bericht zugespielt. Darin wurde behauptet, teilweise mit sehr detaillierten Angaben, dass in Peenemünde auf Usedom zahlreiche neuartige Waffen, darunter auch eine Fernrakete, entwickelt würden.

Doch zu diesem Zeitpunkt konnte die Abwehr den Wahrheitsgehalt des Berichts nicht einschätzen, und so blieb er über zwei Jahre praktisch unbeachtet. Das änderte sich erst ab Ende 1942, als immer mehr Berichte von Agenten eingingen, die über deutsche Forschungsarbeiten an Fernwaffen, meist von Raketenart, sprachen. Im Detail waren die meisten zwar ungenau oder widersprüchlich, doch allein ihre Anzahl deutete daraufhin, dass man sie nicht einfach ignorieren sollte.

Im Frühjahr 1943 fielen dann zwei hohe deutsche Offiziere „auf einen der ältesten Abwehrtricks“ herein. „Es handelte sich um General Cruewell und General von Thoma. Thoma war im November 1942, mehrere Monate nach Cruewell, in der nordafrikanischen Wüste gefangengenommen worden. Am 22. März 1943 wurden sie zusammengeführt und allein beieinander gelassen. Sie begrüßten sich als alte Freunde in einem Raum, der mit empfindlichen Mikrophonen ausgestattet worden war. Von Thoma, der als Rommels Stellvertreter im Dienstrang höher stand als Cruewell, erfreute diesen mit Erinnerungen aus dem Krieg, dem sie nun beide fern waren. Nach einer der Gesprächsaufzeichnungen äußerte von Thoma sein Erstaunen darüber, daß London durch den Beschuß deutscher Raketen noch nicht in Trümmer liege.

Von Thoma erzählte, daß er ein Sondergelände bei Kummersdorf besucht habe, wo ‚riesige Raketen‘ erprobt würden, die der höchst optimistische Major, der für sie zuständig sei (offenbar Dornberger), für das folgende Jahr versprochen habe. Dieser Major habe sich gebrüstet, die Raketen würden 15 km hoch in die Stratosphäre aufsteigen und hätten eine unbegrenzte Reichweite; es sei nur notwendig, sie ungefähr auf das Ziel einzustellen.

Von diesem Augenblick an änderte sich die Natur des Abwehrproblems: es schien vernünftig anzunehmen, daß die Deutschen tatsächlich eine Fernrakete entwickelten.“

Das bestätigte wenig später auch ein Aufklärungsflug; die geschossenen Fotos zeigten „das gesamte Peenemünder Versuchsgelände und besonders das Startgebiet des Prüfstandes VII … Auf den Fotos waren ohne jeden Zweifel Raketen zu erkennen, die kurz vor dem Abschuß waren; ihre weißen Rümpfe zeichneten sich unerhört deutlich in jeder Einzelheit ab.“

Luftbildaufnahme von Prüfstand VII, aufgenommen von der englischen Abwehr am 23. Juni 1943.

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Neben dem Aggregat 4, der Rakete, befand sich in Peenemünde, im westlichen Teil, betrieben von der Luftwaffe, eine weitere Waffe in Entwicklung: die Fieseler 103. Die Fi 103, später unter der Bezeichnung V1 bekannt geworden, war ein Marschflugkörper, der weltweit erste seiner Art. Im Unterschied zu einer Rakete, deren Triebwerk nur während der sehr kurzen Startphase läuft (und nur in dieser Phase lenkbar ist), läuft das Triebwerk eines Marschflugkörpers während seiner gesamten Flugzeit, also bis unmittelbar vor seinem Einschlag, das heißt bis zur Zündung der mitgeführten Sprengladung.

Das sorgte im Heer für eine gewisse Unruhe, denn die Fi103 war von erheblich einfacherer Konstruktion als das A4 und konnte dennoch genauso viel Sprengstoff befördern wie die komplizierte und teure Rakete. Von Braun musste das in einer Untersuchung des Kirschkerns, wie die Fi103 auch genannt wurde, bestätigen. Aber das Gerät hatte auch Schwächen, die ihm die Rakete besser und effektiver erscheinen ließ: So betrug die Höchstgeschwindigkeit maximal 700 km/h und die Flughöhe lediglich 2000 Meter, womit die Fi103 für die feindlichen Abfangjäger zumindest prinzipiell erreichbar war. Außerdem reichte das einfache Rückstoßtriebwerk nicht aus, um den Flugkörper aus eigener Kraft zu starten. Man benötigte riesige, feste Abschussanlagen, von wo „es mit einer Pulverrakete von ca. 30 t Schub von einer 70 m langen Schleuder“ in Richtung des Zieles katapultiert wird.

Generalfeldmarschall Erhard Milch, als Görings Stellvertreter die Nummer 2 im RLM, favorisierte die Fi103 – weil schnell und billig und damit in großen Stückzahlen zu produzieren. Andere hingegen befürworteten die Rakete, darunter auch Albert Speer, Reichsminister für Bewaffnung und Munition. Letzterer hatte, schon im Februar 1943, die Kommission für Fernschießen gebildet. Und jetzt sollte diese Kommission, unter dem Vorsitz des AEG-Direktors Waldemar Peterson, herausfinden, „welches der beiden konkurrierenden Waffenprojekte der Luftwaffe und des Heeres erfolgversprechender war“. Das führte zum Vergleichsschießen zwischen Fi103 und A4, ausgetragen am 26. Mai 1943 in Peenemünde.

Eine Fieseler 103 (später V1 genannt) auf der Startschiene.

„An diesem Tag“, so Neufeld, „versammelte sich die in der Geschichte des Raketenzentrums größte Zahl von Funktionsträgern des Dritten Reiches in Peenemünde, um die Starts von zwei A4-Raketen und zwei Kirschkern-Flugbomben zu beobachten.“ Neben Milch und Speer waren unter anderen dabei: Karl Otto Saur, Staatssekretär im Ministerium für Bewaffnung und Munition, Großadmiral Karl Dönitz, erst seit 30. Januar 1943 Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, Gerhard Degenkolb, Vorsitzender des Sonderausschusses A4, Generaloberst Fritz Fromm, Befehlshaber des Ersatzheers.

Die illustre Runde konnte um die Mittagszeit als erstes dem Start des A4 Versuchsmusters 26 beiwohnen: Sie hob „genau um zwölf Uhr ab und verschwand nach fünf Sekunden in der niedrigen Kumuluswolkendecke; die Radar-Stellungen verfolgten ihren Weg 103 km hoch; 348,6 Sekunden nach dem Start schlug sie in einer Entfernung von 265,339 km ein, nur 5 km vom vorgesehen Ziel entfernt.“ Also alles in allem ein Bilderbuchstart, der auch gebührenden Eindruck machte (sogar bei Milch).

Es folgten zwei Starts der Fi103. Leider mussten die Anwesenden mitansehen, wie die Maschinen „gleich nach dem Start schmählich versagten und in die Ostsee stürzten“. Diese schlechte Figur, die die Flugbombe damit hinterließ, konnte auch nicht mehr wettgemacht werden durch den zweiten Start eines A4, der ebenfalls fiaskös verlief. Daraufhin soll Milch Dornberger für dessen Erfolg gratuliert haben.

Noch am gleichen Tag entschied die Kommission für das Vergleichsschießen, dass beide Waffen weiterentwickelt werden. Nach den erzielten Ergebnissen eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, dennoch steht im Raum, dass das Vergleichsschießen – wie die ganze Kommission – nur einer von Speers politischen Winkelzügen darstellte, um es sich mit keinem Machtzentrum des Reichs zu verderben, und das Ergebnis schon im Vorhinein feststand.

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Die Serienfertigung des A4 sollte in Peenemünde Ende August beginnen. Die riesige Fertigungshalle 1 war fertig gestellt; da die Serienfertigung aber mit der vorhandenen Belegschaft kaum zu leisten war, überreichte (am 2. Juni 1943) Arthur Rudolph, verantwortlich für die Serienfertigung, dem Sonderausschuß A4 eine Anforderung von 1400 Häftlingen mit der Bitte, diese an die für derlei Dinge zuständige Stelle der SS weiterzuleiten. So geschah es, und schon zwei Wochen später trafen die ersten 200 in Peenemünde ein (maximal waren 2500 vorgesehen). Zur Unterbringung der Häftlinge wurden in der Fertigungshalle 1 provisorische Unterkünfte eingerichtet.

Noch bevor es zur Aufnahme der Serienproduktion kam, flog – ab dem 28. Juli – Bomber Command Angriffe auf Hamburg. In der Stadt war „es so heiß und trocken wie alle zehn Jahre einmal. In der schwülen Hochsommernacht … stand die Temperatur zwischen 20 und 30 Grad.“ Zum ersten Mal setzten die Engländer in großem Maßstab Stanniol-, auch Düppelstreifen genannt, ein: Schmale Metallfolien aus Aluminium von rund 25 cm Länge, die über der Stadt abgeworfen wurden; dadurch gelang es, die Radaranlagen der deutschen Flugabwehr so wirkungsvoll zu stören, dass die englischen Flugzeuge drei Nächte lang praktisch ungestört ihre Bombenlast über der Stadt abwerfen konnten (nur 12 britische Bomber wurden abgeschossen).

Zwischen vierzig- und fünfzigtausend Menschen fanden den Tod. „Sieben Prozent davon entfielen auf den Bezirk Mitte, wo die Waffe eine Tötungsquote von 5,9 Prozent erreicht. In den reinen Wohnstraßen von Hammerbrook fallen sechsunddreißig von hundert Bewohnern. Siebentausend Kinder und Jugendliche verlieren ihr Lieben, zehntausend bleiben elternlos zurück.

Die engen Hinterhöfe werden zu glühenden Verliesen, die dort Gefangenen finden keinen Ausgang mehr und erwarten den Tod. Im Zenit des Feuersturms läßt die pure Hitzestrahlung Häuser sich auf einen Schlag vom Dach bis zum Erdgeschoß wie eine Stichflamme entzünden. Die Sturmböen ziehen den Häuserkellern Sauerstoff heraus wie eine gigantische Pumpe. Sechs Stunden Feuersturm sollen zwei Milliarden Tonnen Frischluft den sieben Kilometer hohen Luftkamin emporgejagt haben. Dadurch rasten durch die Horizontale Windgeschwindigkeiten bis zu 75 Metern pro Sekunde. Darin verlieren Menschen den Stand. Metertief im Erdreich wurzelnde Bäume knickten ab, wurden in der Krone verdreht. Man hat Pappeln in die Waagerechte gebogen gesehen. Die Bergungsdienste, die später die Überreste der an Sauerstoffmangel Erstickten oder in Strahlhitze Eingeäscherten einsammeln, lassen die Trümmermassen zehn Tage abkühlen.“

Es war der bis dahin verheerendste von der RAF geflogene Angriff auf eine deutsche Stadt.

Einen Tag darauf prophezeite Speer „ganz offen: Wenn die Fliegerangriffe im jetzigen Ausmaß weitergehen, sind wir nach zwölf Wochen einer Menge von Fragen enthoben, über die wir uns zurzeit noch unterhalten. Dann geht es in einer glatten, verhältnismäßig steilen Talfahrt den Berg hinunter.“ Selbst Generalfeldmarschall Milchs „eiserner Optimismus“ war angeschlagen: „Wir haben den Krieg verloren! Endgültig verloren!“ Denn „das, was die Heimat erleide, das ist nicht mehr zu ertragen.“

Angesichts des Hamburg-Fiaskos konnte Speer „Hitler zur Unterzeichnung eines umfassenden Erlasses bewegen, mit dem die Fertigung der A4-Rakete die höchste nur mögliche Vorrangstufe erhielt“. Spätestens jetzt wurde die Rakete mehr und mehr zu einem Rettungsanker für das Reich. „Immer wieder war der Führung … versprochen worden, die A4-Rakete sei eine Waffe, die den Kriegsverlauf ändern könne.“ Jetzt, in prekärer Lage, begann die Führung, diesen Versprechungen zu glauben. Was für Peenemünde hieß, dass es jetzt den Preis zu zahlen hatte für „die Art und Weise … in der Dornberger und das Heer das Raketenprogramm gegenüber der politischen Führung verkauft hatten“.

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Obwohl man in England noch immer keine genaue Vorstellung davon hatte, was das denn für eine Rakete war, die in Peenemünde gebaut wurde – man stritt über den Treibstoff, die Größe, die Reichweite, die Nutzlast –, rief „am frühen Morgen des 17. August 1943 … das Bomberkommando die Befehlshaber der Bombergruppen an und benachrichtigte sie, die Befehle für den geplanten Angriff auf Peenemünde zu erwarten“.

Der Angriff erfolgte dann am Abend des gleichen Tages. Zur Ablenkung und Verwirrung der deutschen Flugabwehr starteten zunächst Mosquito-Jäger einen Scheinangriff auf Berlin. Gegen 23 Uhr „rasten die acht hoch fliegenden Mosquito-Maschinen von Luftmarschall Bennetts 139. Staffel über Dänemark und warfen Riesenmengen Düppelstreifen auf dem Weg ab, überquerten die deutsche Ostsee-Küste westlich von Peenemünde und brausten südwärts nach Berlin“.

Kurz vor Mitternacht trafen die britischen Bomber über Berlin ein. Schon zuvor hatte die deutsche Flugabwehr über der Nordsee hunderte von Flugzeugen in, so schien es, Richtung Berlin ausgemacht. Man befürchtete „eine hamburgartige Katastrophe für die Reichshauptstadt“. Sämtliche Flugabwehrverbände des Reiches starteten gen Berlin. Die Hauptstadt war hell erleuchtet: Flakscheinwerfer und -feuer der Deutschen, Pfadfinder-Leuchtsignale der Briten überstrahlten den Vollmond mit Leichtigkeit.

Zur gleichen Zeit in Peenemünde: „Nach dem Abendessen unterhielt ich mich“, so Walter Dornberger, „am runden, glasgedeckten, niedrigen Tisch des holzgetäfelten, von blitzenden Messingkronleuchtern festlich erhellten Kaminzimmers mit Professor von Braun, Dr. Steinhoff und unserem heutigen Abendgast, der Versuchsfliegerin Hanna Reitsch. Tief in den bequemen Sessel geschmiegt erzählte diese zierliche, energische, zielbewußte, mutige Frau von ihrem Leben, ihrer Arbeit und ihren Zukunftshoffnungen. An der kurzen Jacke ihres dunkelblauen Kostüms blitzten das EK I und die Brillanten des Fliegerabzeichens. Gemeinsame Erinnerungen an ihre SegeIfliegerzeit auf der kurischen Nehrung verbanden sie mit Professor von Braun, und wenn sie ihr Weg nach Peenemünde führte, war sie stets ein bei uns gern gesehener Gast.“

Gegen 23.30 befanden sich die Beteiligten dieses „angeregten Gesprächs“ wieder in ihren Unterkünften. Den Luftalarm, der um dieselbe Uhrzeit gegeben worden war, nahm man nicht wirklich ernst, denn den hörte man alle paar Tage: Immer, wenn die Briten einen Angriff auf Berlin flogen, kamen sie über Peenemünde. Immer wurde Alarm gegeben, nie wurde es ernst für Peenemünde.

Der Angriffsplan Bomber Commands auf Peenemünde.

Um 1.17 Uhr begannen dann die Bomben der ersten Angriffswelle auf Peenemünde zu fallen. Dornberger wird im Gästehaus des Entwicklungswerks aus dem Schlaf gerissen; nachlässig wirft er sich über den Schlafanzug Rock und Mantel und eilt Richtung Ausgang.

„Die große, schwere, eichene Haustüre ist herausgedrückt und liegt auf den Stufen, die zum fliesenbedeckten Gartenpfad hinabführen.

Ich bleibe gebannt stehen. Der Anblick, der sich mir bietet, ist von unheimlicher, grausiger Schönheit.

Wie durch einen rosigen Gazevorhang sehe ich in gedämpften Farben und Lichtern ein fast unwirkliches Bühnenbild. Künstliche Nebelwolken wallen, leicht zusammenfließend, an mir vorüber. Irgendwo müssen große Brände wüten. Der Mond erhellt durch diese dünnen Wattewolken hindurch die Kiefernpflanzungen, die Wege und Sträucher. Alles ist mit weißem Sand wie mit Puderzucker bestreut. Die Gebäude des Verwaltungsviertels, soweit ich sie durch den Schleier erkennen kann, das Konstruktionsgebäude des Entwicklungswerkes und die Arbeiterkantine tauchen als graue drohende Schatten in dem rosenroten Nebel auf und verschwinden wieder. Oben wird durch den dünnen Nebel der sternenübersäte Nachthimmel mit den hin und her huschenden Scheinwerferkegeln sichtbar.

Während das erschreckte Auge dieses ständig in den Farben wechselnde Bild staunend aufnimmt, wird das Ohr durch das ununterbrochene Bellen und Krachen der Flak, den Knall der krepierenden Granaten, das Einschlagen der Bomben und das summende monotone Dröhnen der feindlichen viermotorigen Bomber gemartert.“

Erst während der zweiten Angriffswelle, die gegen halb zwei begann, begriffen die Piloten der deutschen Flugabwehr, dass sie einem Trick von Bomber Command aufgesessen waren. Obwohl sie bereits viel Treibstoff verbraucht hatten, „flogen zahlreiche Nachtjäger in Richtung Peenemünde“, wo sie um „etwa 1 Uhr 35 eintrafen, als die Bomben am dichtesten fielen“

Insgesamt trudelten etwa 30 deutsche Jäger nach und nach über Peenemünde ein. Obgleich sie natürlich nichts ausrichten konnten gegen die englische Übermacht von über 600 Maschinen, gelang es ihnen dennoch, insgesamt 40 Feindmaschinen abzuschießen. Die meisten davon befanden sich aber schon auf dem Rückzug, das heißt auf dem Rückflug (hatten also ihre Bombenfracht über Peenemünde bereits abgeworfen). Aber am nächsten Morgen erwiesen sich die Schäden entgegen dem ersten Eindruck als „überraschend gering. Prüffelder und Sonderanlagen wie Windkanal und Meßhaus waren überhaupt nicht getroffen worden. Bei der uns sofort und von allen Seiten in großzügigster und ausreichender Weise gewährten Hilfe war die Weiterarbeit mit einer Verzögerung von 4 bis 6 Wochen gesichert.“ Und das, obwohl immerhin „mindestens 25 Gebäude im Entwicklungswerk in Brand gesetzt oder beschädigt wurden, darunter auch Haus 4, das Verwaltungsgebäude.“

„Die Zahl der Gefallenen“ stand erst einige Wochen später einwandfrei fest. „735 Tote hatte der Angriff gefordert, davon 178 Bewohner der von 4000 Menschen bewohnten Siedlung. Besonders schwer waren die Verluste unter den ausländischen Bauarbeitern der Bauleitung des Generalbauinspektors in dem völlig vernichteten Barackenlager Trassenheide.“ Völlig verschont hingegen blieb Peenemünde-West, da die Briten noch nicht ahnten, dass in Peenemünde an zwei Fernwaffen, dem A4 (Werk Ost) und der Fieseler 103 (Werk West), gearbeitet wurde.

Aber eine weitere „Auswirkung der Schäden und der Ungewißheit, die der Angriff des britischen Bomberkommandos auf die Geheimwaffenentwicklung in Peenemünde hervorgerufen hatte, war die, daß Reichsführer SS Heinrich Himmler nun die Gelegenheit bekam, in dieses entscheidende Gebiet der deutschen Kriegsbemühungen einzudringen und allmählich die Kontrolle über den gesamten Bewaffnungssektor in Deutschland zu gewinnen. Seine Methode hatte den Reiz der Einfachheit: die SS sprang überall dort ein, wo eine Lücke sichtbar wurde und wo sie entweder Hilfe anbieten oder einen Mangel beseitigen konnte. War sie dann erst einmal eingedrungen, griff sie bald fester zu, bis sie die völlige Herrschaft in der Hand hatte.“

Als den dafür geeigneten Mann wählte Himmler den SS-Brigadeführer Dr. Ing. Hans Kammler aus (im Heer entspricht der Brigadeführer einem Generalmajor). Kammler, eine „männlich schöne Erscheinung, die zunächst für sich einzunehmen wußte“, hatte erst vor Kurzem seine „Qualitäten“ mit dem Bau der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau und Majdanek unter Beweis gestellt.

Die grundlegenden Entscheidungen wurden am 22. August in einer Besprechung im Führerhauptquartier (Wolfsschanze) zwischen Himmler, Speer und Hitler selbst getroffen: „Auf Hitlers Anweisung sollten die bisherigen Fertigungsanlagen in Peenemünde lediglich als Übergangsanlage so lange mit Nachdruck weiter errichtet werden und darin gefertigt werden, bis eine endgültige Fertigung an gesicherter Stelle unter möglichst starker Heranziehung von Höhlen und anderen geeigneten Bunkerstellungen gewährleistet war. Die Erweiterung des Peenemünder Versuchsserienwerks sollte eingestellt werden.

Albert Speer unterrichtete nun Gerhard Degenkolb und Generalmajor Dornberger über diese Besprechung:

Das endgültige Entwicklungswerk soll gemäß dem Vorschlag des Reichsführers dabei in Zusammenhang mit dem dem Reichsführer gehörenden Truppenübungsplatz im Generalgouvernement [Blizna] errichtet werden.“

Vier Tage später, am 26. August, „berief Speer die Raketenfachleute zu einer geheimen Besprechung über die einzelnen Maßnahmen und die Wahl der Herstellungsorte ein. Zum erstenmal nahm Kammler selbst an den geheimen Verhandlungen … teil.“ Nach einem Vorschlag Kammlers, dem Degenkolb zustimmte, „sollte das Hauptwerk für die Montage in eine unterirdische Fabrik in den Harz verlegt werden.“

Dort, im Kohnstein nahe dem Städtchen Nordhausen, gab es eine unterirdische Stollenanlage, die während des Ersten Weltkriegs angelegt und in den 1930er Jahren als Vorratslager für Öl und chemische Kampfstoffe benutzt worden war. Zwei Stollen (genannt A und B) von je 1,8 Kilometer Länge und so breit, dass sich zwei Eisenbahngleise nebeneinander verlegen ließen, durchbrachen den Kohnstein parallel im Abstand von rund 140 Metern in Nord/Süd-Richtung. Mit den zahlreichen Vorratsstollen, die zwischen den Stollen A und B verliefen, ergab sich auf einer Gesamtfläche von 120.000 Quadratmetern ein umfangreiches, aber nur zum Teil ausgebautes Stollensystem mit einer Gesamtlänge von rund 20 Kilometern.

Bereits wenige Tage, nachdem die Entscheidung für den Kohnstein gefallen war, hatte die SS „in erstaunlicher Eile“ die ersten Gefangenen aus dem KZ Buchenwald nach Nordhausen geschafft, wo ein Außenlager, das Arbeitslager Dora, eingerichtet wurde. Nach wenigen Wochen waren es bereits mehr als 10.000; bis Dezember wurden sie ausschließlich für den Ausbau der Stollen eingesetzt. Dem wurde alles andere untergeordnet. „Kümmern Sie sich nicht um die menschlichen Opfer“, instruierte Kammler, zuständig für den Ausbau, seine Leute. „Die Arbeit muß vonstatten gehen, und in möglichst kurzer Zeit.“

Selbst Toiletten hielt Kammler in der Aufbauphase für unnötigen Luxus; man griff auf Karbidfässer zurück, über die man Bretter und diese von Zeit zu Zeit mit Chlorkalk ablöschte. Entsprechend waren „die hygienischen Bedingungen schlichtweg katastrophal. Die Versorgung mit Wasser reichte bei weitem nicht aus, und Waschgelegenheiten gab es nicht … der Gestand war fürchterlich … In den feuchten und nur schwach beleuchteten Stollen wurde es nie wärmer als 15 °C, und die Holzpritschen, von denen sich im Schichtsystem jeweils zwei oder mehr Häftlinge eines teilen mußten, waren völlig verdreckt und verlaust. Wegen der Nähe der rund um die Uhr vorangetriebenen Arbeiten im noch nicht fertiggestellten Fahrstollen A erschütterten immer wieder Explosionen die Schlafstollen, und die Luft war mit Staub erfüllt.“

Die Arbeiten hatten im Oktober begonnen und sollten Ende Dezember abgeschlossen sein. Es ist beinahe unnötig zu erwähnen, dass Kammler den Ausbau des Stollensystems fristgerecht und erfolgreich beenden konnte. Seine Effizienz, die mehreren Tausend Häftlingen das Leben kostete, wurde durch Himmler mit der Beförderung zum SS Gruppenführer (Generalleutnant) belohnt.