Es beginnt mit einer Pokerpartie, Commander Data, der Android, gegen Jean-Luc Picard, ehemals Captain der Enterprise. Zur Erinnerung: Auch auf der Enterprise hat man des Öfteren gepokert, aber erst im Finale der Serie Star Trek: The Next Generation (TNG) hat der Captain selbst, in der letzten Szene der Serie, an einer teilgenommen (auch Data war damals mit von der Partie). Die neue Serie im Star-Trek-Universum, Star Trek: Picard, schließt also direkt an TNG an.

Diesmal allerdings erweist sich die Pokerpartie als ein Traum Picards. Er erwacht im Bett auf seinem Anwesen in Frankreich, dem Château Picard, wo er, nachdem er die Sternenflotte verlassen hat, als Pensionär seine (vermutlich) letzten Jahre verbringt. Es ist derselbe Ort, an den er sich (in TNG, 4. Staffel, 2. Episode) zurückgezogen hatte, nachdem er von den Borg, die ihn als Locutus assimiliert hatten, befreit worden war. Damit sind sie, die Borg, im Spiel, wenn zunächst auch nur für Insider.
Der Tag nach dem Picard’schen Alptraum – das Pokerspiel endete mit dem Tod von Data und ihm selbst – ist „ein großer Tag“, denn es steht ein Interview mit FNN an, dem Sender, der die „News of the Galaxy“ im Programm hat. Und so grotesk großspurig wie das Motto des Senders ist auch die Interviewerin, der sich Picard schließlich gegenüber sieht; sie ist offenbar eine in die Zukunft projizierte Oprah Winfrey: schwarz, weiblich, arrogant. Sie versucht, stets mit einem überheblichen (oder mitleidigem) Lächeln im Gesicht, Picard vorzuführen.
Gleichzeitig fungiert sie auch als in die Story integrierte Erzählerin, quasi als Verlängerung der Drehbuchautoren. Als solche schildert sie die Vorgeschichte, also das, weshalb es die Serie überhaupt gibt: Vor 12 Jahren, im Jahr 2387, wurde Romulus, die Heimatwelt der Romulaner, durch eine Supernova bedroht (was Thema des 11. Star-Trek-Films, Star Trek, war). Dieser Film, der erste der neuen Star-Trek-Linie, verabschiedete sich von unserer Zeitlinie und betrat eine neue, alternative Zeitlinie, die mit dem bisherigen Star-Trek-Kosmos nichts mehr zu tun hatte. Das geschah nicht, weil man irgendeine neue, tolle, noch nie dagewesene Idee gehabt hätte, die man nur so verwirklichen könnte. Das Gegenteil ist richtig: Man wählte diesen Weg, damit das neue Star Trek (das von J. J. Abrams) sich nicht ständig um lästige Kongruenz mit der Vergangenheit bis hin zu TOS (der klassischen Serie aus den 1960ern) zu kümmern brauchte. Star Trek: Picard nun setzt die „klassische“ Zeitlinie fort.
Romulus ersuchte die Föderation um Hilfe, die diese auch gewährte: Zehntausend warpfähige Fähren wurden, unter dem Kommando von Jean-Luc Picard, losgeschickt, um 900 Millionen Romulaner umzusiedeln auf Welten, die außerhalb der Reichweite der Supernova lagen.
„Und dann geschah das Unvorstellbare“, so die Moderatorin. „Einer Truppe abtrünniger Androiden gelang es, das Verteidigungsnetzwerk des Mars zu infiltrieren. Sie zerstörten die Rettungsflotte und die Utopia-Planitia-Flottenwerft. Die Explosionen haben Dämpfe in der Stratosphäre entzündet; der Mars brennt bis zum heutigen Tag. Es gab 92.143 Tote und führte zu einem Verbot von Androiden.“
Schließlich stellt sie die entscheidende Frage an Picard: „Wieso haben Sie die Sternenflotte verlassen?“ Seine Antwort: „Weil es nicht mehr die Sternenflotte war.“ Nicht das Verbot der Androiden, das Picard zwar für einen schweren Fehler hielt und hält, führte zum Bruch, sondern der Rückzug der Föderation: „Die Galaxis hat getrauert und ihre Toten bestattet. Und die Sternenflotte stiehlt sich aus der Verantwortung! Die Entscheidung, die Rettung abzubrechen und jene im Stich zu lassen, die zu retten wir geschworen haben, war nicht nur unehrenhaft, sondern schlicht und ergreifend kriminell. Und ich war nicht mehr bereit, untätig dabei zuzusehen!“ Damit bricht er das Interview ab: „Wir sind hier fertig.“
Aus diesem Interview entwickeln sich zwei Stränge. Einer wird im weiteren Verlauf der Episode näher verfolgt; der andere bleibt (vermutlich vorläufig) nur virtuell vorhanden, besteht hier nur aus einem einzigen Wort, prägt der Episode (und vielleicht der ganzen Serie) durch dieses eine Wort aber so etwas wie einen moralischen Tiefenrhythmus auf.
Zum 1. Strang: Durch das Interview, das live übertragen wurde, wird eine junge Frau, Dahj, auf Picard aufmerksam. Sie besucht ihn, behauptet, ihn zu kennen. Bei seinen Recherchen im Archiv der Sternenflotte stößt Picard auf ein Gemälde, gemalt von Commander Data, auf dem Dahj zu sehen ist. Der Haken dabei: Data hat das Bild vor 30 Jahren gemalt, lange vor der Geburt von Dahj. Das Bild trägt den Titel „Tochter“. Aus TNG (S03E16) wissen wir, dass Data schon immer eine Tochter wollte. Und in gewisser Weise ist Dahj genau das: Ein Android mit einem Körper aus Fleisch und Blut und einem positronischen Gehirn. Sie selbst wusste davon bisher nichts, hat sich immer für einen „normalen“ Menschen gehalten …
Am Ende der Episode finden wir uns in einer „romulanischen Rückgewinnungseinrichtung“, ein Ort, durchaus geeignet, um (illegal) Androiden zusammenzubauen. Man sieht zunächst nur Details in Großaufnahme oder im Hintergrund, aber für die letzte Einstellung der Episode öffnet sich der Blick und zeigt die gesamte Anlage. Man sieht einen leicht modifizierten … Borg-Kubus.
Zum 2. „Strang“: Als die Interviewerin von FNN die Logistik der föderalen Rettungsaktion mit dem Bau der ägyptischen Pyramiden vergleicht, weist Picard das von sich, bezeichnet den Pyramidenbau als „Sinnbild kolossaler Eitelkeit“. Und im Fortfahren erwähnt er, ohne weitere Erklärung, jenes eine Wort: „Wenn Sie nach einer historischen Analogie suchen – Dünkirchen.“
Dünkirchen: französische Hafenstadt an der Nordsee. Im Mai 1940 stand mit dem Erreichen der deutschen Truppen vor Dünkirchen der Fall Frankreichs unmittelbar bevor. Die französische Nordarmee und ein englisches Expeditionskorps (zusammen fast 400.000 Mann) hatten einem deutschen Angriff nichts mehr entgegenzusetzen und sahen der Gefangennahme ins Auge. Sie bereiteten also die Flucht über den Kanal nach England vor. Und überraschenderweise gelang das den meisten auch, wenn auch unter Zurücklassung sämtlicher Ausrüstung. In England sprach man vom „Wunder von Dünkirchen“, doch möglich war dieses Wunder nur, weil der Führer (gegen den Protest seiner eigenen Generäle) den entscheidenden Angriff hinauszögerte.
Die Analogie zwischen Dünkirchen und dem Rückzug der Föderation aus der Rettungsaktion ergibt allerdings nur aus der Sicht eines Franzosen (der Picard ja ist) einen Sinn. Denn am Ende gerieten etwa 40.000 Mann in deutsche Gefangenschaft, und zwar ausschließlich Franzosen. Nach französischer Lesart ließen die Engländer die Franzosen im Stich, um ihre eigene Haut zu retten. Diese Feinheiten dürfte aber weder ein amerikanischer noch ein englischer noch ein deutscher Zuschauer verstehen. Hängen bleibt – und soll es wohl auch – „irgendwas mit Nazis“.
Star Trek: Picard hat mit der Figuren- und Stoffkonstellation, die die erste Episode aufbaut, einerseits durchaus das Zeug, zur besten Star-Trek-Serie überhaupt zu werden. Aber andererseits lauern hinter den gewaltigen Assoziationen, die die Erwähnung von Dünkirchen, den Borg, von mordenden Androiden und einer gescheiterten Föderation hervorrufen, auch gewaltige Gefahren; nicht nur an der deutschen Frage (oder der Deutschenfrage) ist Star Trek ja schon mehr als einmal gescheitert. Warten wir es also ab …
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Star Trek: Picard jeden Donnerstag auf Amazon Prime.