3. Vom Krieg zur Utopie

Über Jahrhunderte hinweg fanden Raketen vor allem als Feuerwerkskörper sowie als Kriegsgerät Verwendung; angetrieben wurden sie allesamt mit Schießpulver, dessen nach hinten ausströmende Verbrennungsgase sie vorwärtstrieben. Als Kriegswaffen taugten sie nur, wenn sie in großen Mengen abgefeuert werden konnten, um den Gegner zu erschrecken bzw. zu demoralisieren, denn im Unterschied zu Kanonen waren Raketen nicht zielgerichtet abzufeuern. Das war auch noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts so, als die Inder in ihren Befreiungskämpfen gegen England die Rakete massenhaft einsetzten. Allein 1799 bei der Verteidigung Seringapatans sollen sie über 100.000 Raketen gegen die englischen Besatzer abgefeuert haben, was zwar zu großen Verlusten in den Reihen der Engländer, doch nicht zu deren Niederlage führte.

Aber dazu, dass sich in der britischen Heimat ein Mann Gedanken darüber machte, wie sich Raketen effektiver als Kriegswaffen einsetzen ließen. Der Ingenieur, Erfinder und Redakteur einer politischen Tageszeitung in London, William Congreve, begann 1804 mit Raketen zu experimentieren und hatte ihre Technik gegen Ende seines Lebens so weit verbessert, dass sie 10 Kilogramm Sprengstoff mehrere Kilometer weit transportieren konnten.

Derartige Congreve’sche Brandraketen, die sowohl größere Sprengkraft als auch höhere Reichweiten erreichten als die damals gebräuchlichen Kanonen, wurden in den folgenden Jahrzehnten bei zahlreichen Schlachten eingesetzt. Nur ihre Zielgenauigkeit konnte er nicht wesentlich verbessern: Eine abgeschossene Rakete erreichte das anvisierte Ziel nach wie vor nur „sehr ungefähr“. Und mit den schnellen Fortschritten in der Herstellung und Anwendung von Kanonen konnte die Weiterentwicklung der Raketentechnik nicht Schritt halten, sodass sich Raketen als Kriegsgerät bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend erledigt hatten.

Andere Einsatzmöglichkeiten wurden zunächst nicht in Erwägung gezogen. Das lag vor allem daran, dass man nicht wirklich verstand, wie Raketen funktionierten. Die gängige Auffassung (bei Feuerwerkern wie Militärs) war, dass sich eine Rakete bewegt, weil sich die aus ihr abströmenden Gase gleichsam von der umgebenden Luft abstießen, wodurch sie kontinuierlich vorwärtsgetrieben wird. Der Rückstoß einer Rakete wäre demnach nur in der Luft (oder auch in einem anderen beziehungsweise gegen ein anderes Medium) wirksam. Im Vakuum könnte eine Rakete also nur so weit fliegen, wie es der ihr anfangs mitgegebene Schwung erlaubte. War der aufgebraucht, würde sie zu Boden fallen wie eine Kanonenkugel, deren Energie, die sie bei der Zündung erhalten hatte, zur Neige ging. Nach dieser Vorstellung war eine Rakete überhaupt nur für irdische Zwecke zu gebrauchen: zum Vergnügen als Feuerwerkskörper oder, unter Irdischen immer besonders beliebt, zum Töten auf Schlachtfeldern.

Das große Umdenken in Sachen Anwendbarkeit der Rakete begann mit der Vereinigung von literarischen, utopischen und technischen Ideen, aus denen sich, innerhalb weniger Jahrzehnte, das ungeheure, buchstäblich weit reichende Potenzial herausschälte, das sich hinter der Funktionsweise einer Rakete verbarg. Fast alle Träumer, Theoretiker und Techniker begannen dabei mit der Lektüre von Jules Vernes Mond-Romanen, in denen dieses Prinzip korrekt dargestellt war.

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Als Jules Verne in seinem Roman Von der Erde zum Mond, erschienen 1865, die Mitglieder eines amerikanischen Klubs den kühnen Entschluss fassen ließ, eine Reise zum Mond zu unternehmen, kam für ihn als „genügend leistungsfähiger Apparat“, der das bewerkstelligen könnte, nur eine Kanone in Betracht. Um das Raumschiff auf die erforderliche Geschwindigkeit von 40.000 km/h zu bringen, bedurfte es allerdings einer unglaublich riesigen Kanone: Sie hatte eine Länge von 275 Metern, einen Innendurchmesser von 2,7 Meter, eine Wandstärke von über 1,8 Meter, und das Gewicht betrug mehr als 68.000 Tonnen.

Titel der Erstausgabe von Jules Vernes Roman
Von der Erde zum Mond

Dabei hatte Verne die Funktionsweise einer Rakete, das Rückstoßprinzip, vollständig erfasst und damit verstanden, dass sie auch im Vakuum des Weltraums funktioniert. Während andere selbst noch in den 1920er Jahren behaupteten, dass der Rückstoß im luftleeren Raum nicht funktionieren könne, weil es dort ja keine Luft gebe, auf die sich die ausströmenden Gase stützen könnten.

Als in Vernes Fortsetzungsroman, Reise um den Mond, erschienen 1867, das Raumschiff – eigentlich ein Geschoss – sich schneller dem Mond näherte als gewünscht und daher ein härterer Einschlag drohte als geplant, gab es keinen Zweifel, was man dagegen unternehmen könnte, nämlich „den Sturz des Geschosses durch zweckmäßig angebrachte Raketen [zu] verlangsamen“, denn tatsächlich könnten „Raketen, die auf dem Boden des Geschosses angebracht waren und nach außen zündeten, durch einen Rückstoß die Geschwindigkeit des Geschosses beträchtlich abbremsen.“ Dass das Prinzip des Rückstoßes im Vakuum wirksam ist, diskutierte Verne nicht einmal; es war ihm selbstverständlich. Auf dem Rückweg, als das Geschoss in eine ähnliche Misere geriet, wurde das gleiche Verfahren – den Rückstoß von Raketen zu nutzen – noch einmal angewendet. Das Vakuum schnitt er als Problem nur einmal kurz an, weil die Raketen ja im leeren Raum brennen mussten. Aber „es würde ihnen … an Sauerstoff nicht fehlen, denn sie lieferten ihn selbst“ (da er in gebundener Form in der Pulvermischung enthalten war).

Jules Verne, der Jurist, der sich bald der Schriftstellerei gewidmet und nie ein wissenschaftliches oder technisches Fach studiert hatte, wusste also, wie eine Rakete funktionierte. Aber vorstellen konnte er sie sich nur als Brems- und Lenkraketchen. Womit er zwar schon weiter war, als die meisten seiner Zeitgenossen, die Raketen nur als Kriegswaffen und bunte Feuerwerkskörper kannten, doch als probates Vehikel für den Aufbruch zu anderen Welten – zum Mond oder auch weiter entfernten – konnte er sie sich nicht vorstellen. Und tatsächlich wurde die Rakete in dieser Funktion literarisch nicht vorweggenommen. Zum Transport zu anderen Welten draußen im All waren zunächst Vögel aller Art beliebt; auch bei allerlei magischen Methoden wurde Zuflucht gesucht. Mit Erfindung des Ballons 1783 wurde dann dieser favorisiert.

Dass Verne eine Kanone für seine Mondreise verwendete, lag nur daran, dass er in Sachen Rakete zu klein dachte. In den 1860er Jahren war es einfach glaubwürdiger, eine 275-Meter-Kanone aufzufahren, um damit zum Mond zu gelangen, als (wie es 100 Jahre später dann tatsächlich geschah) eine fast 3.000 Tonnen schwere und über 100 Meter hohe Rakete, die zu 95 Prozent aus hochexplosiven, ultratiefgekühlten Flüssigkeiten besteht, auf eine Rampe zu stellen und anzuzünden …

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Der Erste, der zumindest ansatzweise utopisches Gedankengut mit Raketentechnik verband, war der Ingenieur und Revolutionär Nikolai Kibaltschitsch; seine kurze Abhandlung über eine Flugmaschine verfasste er „zum Wohl des Vaterlandes und der allgemeinen Menschlichkeit“ im Gefängnis – in den wenigen Tagen, die ihm noch vor der Hinrichtung blieben.

Nikolai Iwanowitsch Kibaltschitsch, 1854 im ukrainischen Tschernigov als Sohn eines orthodoxen Gemeindepriesters geboren, studierte Transportingenieurwesen und Medizin und schloss sich der Narodnaja Wolja an, einer terroristischen Splittergruppe der Narodniki , deren Angehörige von Leo Trotzki als „die Elite der Intelligenz, die Blüte der Generation“ bezeichnet wurden (der „Gelehrte und Erfinder“ Kibaltschitsch wird explizit genannt). Während die Narodniki, „Volksfreunde“, die Bildung des Volkes heben wollten, damit dieses fähig sei, sich gegen Autokraten wie den russischen Zaren zu erheben, ging die Narodnaja Wolja, „Volkswille“, gleichsam den direkten Weg: Sie gründete sich im Dezember 1879 mit dem Ziel, den herrschenden Zar Alexander II. mit einem gezielten Bombenanschlag zu beseitigen. Es sei jedoch erwähnt, dass ausgerechnet unter der Regentschaft Alexanders II. tiefgreifende Reformen umgesetzt wurden: die Leibeigenschaft war 1861 abgeschafft worden (noch vor dem Ende der Sklaverei in den USA!), die Selbstverwaltung in der Landwirtschaft eingeführt, die Justiz liberalisiert und die Zensur gelockert worden.

Kibaltschitsch arbeitete für die Gruppe als „Techniker“, war also zuständig für die Entwicklung der Bomben, von denen eine den Zaren am 1. März 1881 (nach gregorianischer Zeitrechnung, die in Russland jedoch erst nach der Revolution 1917 eingeführt wurde) in Sankt Petersburg tötete.

In den siebzehn Tagen, die er in Haft und in Erwartung seiner Hinrichtung verbrachte (am 3. April 1881 wurde er öffentlich gehängt), skizzierte er seine Idee zu einer „aeronautischen Maschine“, die vor ihm, soweit ihm bekannt, noch kein anderer formuliert habe. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die einfache, mit Schießpulver gefüllte Kriegsrakete, die nach der Zündung rasch, das heißt explosionsartig, abbrennt und dabei entsprechend der freigesetzten Energie eine bestimmte Entfernung zurücklegt. Kibaltschitsch erkannte, dass mit diesem Prinzip dem Erreichen größerer Höhen enge Grenzen gesetzt sind, einfach deshalb, weil das Schießpulver zu schnell abbrennt. Vielmehr kommt es darauf an, die Verbrennung langsam und kontinuierlich zu gestalten.

Seine Rakete besteht aus einem hohlen, aufrecht stehenden Zylinder, dessen untere Seite aufgebohrt ist. Das Innere des Zylinders ist jedoch nicht, wie bei einer klassischen Feststoffrakete, durchgehend mit Schießpulver gefüllt – das ja fast schlagartig abbrennen würde –, sondern mit vielen einzelnen Pulver-Pellets (in der englischen Übersetzung „candles“ genannt), die nacheinander zünden; zur Steuerung der Zündabfolge der Pellets stellt er sich eine Art Zeitschalt-Mechanismus (clockwork mechanism) vor, den er nicht näher ausführt, da er „leicht mit heutiger Technik verwirklicht werden kann“. Der Vor- beziehungsweise Auftrieb der Rakete entsteht durch den Druck der gezündeten Pellets im Zylinder. Der Druck verteilt sich gleichmäßig im Innenraum. Gegen die seitliche Wandung des Zylinders hebt er sich auf; dem Druck gegen die obere, geschlossene Seite jedoch steht kein Gegendruck auf der Unterseite gegenüber, da diese ja offen ist. Übersteigt der Druck auf die Oberseite das Gewicht des Zylinders (und des Treibstoffs), dann erhebt sich die Rakete in „große Höhen“.

Die für Kibaltschitsch aber nicht über die Erdatmosphäre hinaus ins Vakuum, geschweige denn zu anderen Himmelskörpern reichten, wie für die Raketen-Pioniere, die ihm folgten. So genau er auch die Rolle der Verbrennung des Treibstoffs erfasste – dass er den Festtreibstoffen verhaftet blieb, lag schlichtweg an seinen mangelnden Kenntnissen (worauf er auch hinweist) –, blieb ihm doch ein wesentliches Merkmal des Rückstoßes verborgen: Er erkannte nicht, dass seine Rakete auch im Vakuum funktionieren würde.

Etwa zur gleichen Zeit, 1891, hielt der deutsche Tüftler und Erfinder Hermann Ganswindt in Berlin einen Vortrag, Titel: Ueber die wichtigsten Probleme der Menschheit, in dem er sein „Weltenfahrzeug“ erstmals öffentlich vorstellte. Den Text dieses Vortrages brachte er zusammen mit anderen Texten samt einiger Patentschriften seiner Erfindungen 1899 unter dem Titel Das jüngste Gericht im Selbstverlag heraus.

Wie schon der Titel des Vortrags sagt, sah er seine dargelegte Technik nicht losgelöst von der Gesellschaft, in der er sie formulierte. Zentral war für ihn die soziale Frage. Er wollte, wie Kibaltschitsch, nicht einfach „des Lebens alltäglicher Trivialität und Magenfrage“ entfliehen, sondern aktiv „das Elend aus der Welt … schaffen“. War dabei aber, im Unterschied zu den meisten anderen Utopisten, nicht sozialistisch gesinnt, sondern eher konservativ-christlich. Er sah die soziale Frage nicht in Widerspruch zu Träumereien und bekannte, dass er „leidenschaftlich gern … wohl in Wirklichkeit eine Expedition nach anderen Weltkörpern unternehmen [möchte]“, weshalb er sich die „wissenschaftliche Frage“ vorgelegt habe: „Ist die Möglichkeit vorhanden, außerhalb des Bereiches der Erde und ihrer Atmosphäre zu gelangen und z. B. die nächsten Planeten Venus und Mars zu besuchen?“

Er hegte keinen Zweifel daran, wie diese Frage zu beantworten ist: „Jawohl, es ist möglich.“ Und zwar mit seinem Weltenfahrzeug, dessen Entwurf auf der (fast) konsequenten Anwendung des Rückstoßprinzips fußt (auch wenn er dieses Wort nie benutzt).

Das Weltenfahrzeug Ganswindts

Es besteht aus vier Zylindern: Herzstück ist der Passagierzylinder am unteren Ende des Geräts, der Platz bietet für zwei Reisende plus Proviant und „die zum Athmen erforderliche Luft“; links- und rechtsseitig darüber befinden sich die zwei Munitionszylinder, dazwischen der Antriebszylinder, der „die Arbeit“ leistet, das heißt die Antriebsenergie zur Verfügung stellt, und zwar derart, „dass durch eine besonders construirte Dynamitpatrone ein kleines Geschoss von einem größeren Stahlblock [dem Antriebszylinder] aus weggeschleudert wird“.

Der Nachschub an Dynamitpatronen befindet sich in den Munitionszylindern, von wo sie in den Antriebszylinder transportiert und dort nacheinander gezündet und ausgeworfen werden. Gelenkt wird das Fahrzeug durch Neigung des Antriebszylinders; künstliche Schwerkraft zur Erhöhung der Bequemlichkeit der Passagiere wird durch die Rotation des gesamten Fahrzeugs um die Längsachse erzeugt.

Ganswindt erkannte zwar richtig, dass sein Antrieb auch im luftleeren Raum außerhalb der irdischen Atmosphäre funktioniert, sein Denkfehler lag aber darin, dass er davon ausgeht, der Rückstoß, der das Fahrzeug vorwärtstreibt, werde durch den Auswurf der abgebrannten Patronen hervorgerufen, so wie sich ein „freischwimmender Kahn“ nach vorn bewegt, wenn man von ihm abspringt. Der Gedanke, dass bereits das Ausströmen des Gases bei der Zündung der Patronen den Rückstoß erzeugt, blieb ihm zeitlebens fremd.

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Der Erste, der das Antriebsprinzip einer Rakete, den Rückstoß, vollständig verstand und auch in einer mathematischen Formel ausdrücken konnte, war der Russe Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski. Am 29. September 1857 in Ischewskoje geboren, knapp 200 Kilometer südöstlich von Moskau, erkrankte er als Zehnjähriger so schwer an Scharlach, dass er fast völlig ertaubte und die Schule verlassen musste. Als praktisch Gehörloser bildete er sich zunächst autodidaktisch weiter, wurde dann von seinen Eltern an der Universität von Moskau immatrikuliert, wo er Physik, Astronomie, Mechanik und Geometrie studierte. Ende 1879 wurde er Mathematiklehrer in Borowsk, Oblast Kaluga, und begann unter dem Einfluss von Jules Verne zunächst fantastische Erzählungen zur Weltraumfahrt zu veröffentlichen, mit der er sich ab 1885 dann auch in Sach- und Fachartikeln beschäftigte. Sein großes Thema war stets die Frage, wie der Mensch das Weltall und damit andere Welten erreichen könne.

Den entscheidenden Anstoß erhielt Ziolkowski 1896 durch eine Flugschrift, die ein anderer Russe, der Ingenieur Alexander Petrowitsch Fjodorow (1872-1920) unter dem Titel Ein neues Verfahren der Luftfahrt veröffentlichte, worin er den Gedanken des Rückstoßprinzips auf den Punkt brachte: Die Rakete ist nicht auf „abstützende Medien“ angewiesen, bewegt sich also auch im Vakuum vorwärts, und der Vortrieb wird nicht zwingend durch feste Partikel (wie die Ganswindt’schen Patronen) erzeugt, sondern bereits durch die ausströmenden Gase selbst.

Ziolkowski, der später sagte, Fjodorows Text sei für ihn das gewesen, was für Newton der fallende Apfel war, arbeitete die von Fjodorow sehr allgemein gehaltenen Beschreibungen in zwei Jahren zu einer umfassenden, mathematisch exakten Formulierung des Rückstoßprinzips aus, die er 1898 in der Arbeit Die Erforschung der Planetenräume durch Rückstoßapparate zusammenfasste. Aufgrund anderer Verpflichtungen (etwa seiner Tätigkeit als Lehrer) dauerte es weitere fünf Jahre, bis er diese Arbeit druckfertig machen konnte. 1903 erschien sie dann in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Wissenschaftliche Referate. Im Westen allerdings wurde sie, samt zwei Ergänzungen von 1911 und 1914, erst über zwanzig Jahre später, Mitte der 1920er Jahre, bekannt. Bis dahin war die Raketengrundgleichung unabhängig von Ziolkowski auch von Hermann Oberth mathematisch hergeleitet worden.

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Es war im Jahr 1906, als dem 12-jährigen Gymnasiasten Hermann Oberth in Schäßburg, Siebenbürgen, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, die deutsche Übersetzung der Verne’schen Mondromane Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond in die Hände fiel. Trotz seiner Jugend erkannte Oberth sofort, dass das so, wie Verne es beschrieb, nicht funktionieren konnte: Den Andruck, der beim Start des Geschosses entstehen würde, könnte kein Mensch überleben. Und Oberth brauchte nicht lange, um zu erkennen, wodurch die Verne’sche Kanone nur zu ersetzen sei: durch die Rakete.

Aus dem 3. Newton’schen Axiom (Aktion = Reaktion) und diversen kleineren Experimenten erkannte er den Zusammenhang zwischen der Geschwindigkeit der ausströmenden Gase (Aktion) und dem Vortrieb der Rakete (Reaktion); wobei der Vortrieb durch die Gesamtmasse der Rakete abgebremst wird, die nach dem Start durch den Verbrauch des Treibstoffs aber stetig abnimmt (weshalb die Raketengleichung keine lineare ist). 1914, als Student der Medizin, im Alter von gerade 20 Jahren, konnte er diesen Zusammenhang in einer mathematischen Gleichung, eben der Raketengrundgleichung, zusammenfassen.

Wie weit man mit einer Rakete kommt, hängt davon ab, welche Endgeschwindigkeit man mit ihr erreichen kann. Will man in eine Erdumlaufbahn braucht man 7,9 km/s (entsprechend 28.400 km/h); will man die Erdanziehung verlassen (und beispielsweise zum Mars), braucht man 11,2 km/s (40.000 km/h). Will man zum Mond, braucht man etwas weniger als 11,2 km/s, da der Mond zwar sehr weit von der Erde entfernt ist, aber eben um die Erde kreist, sich also in einer (wenn auch weit draußen liegenden) Erdumlaufbahn befindet.

Die Raketengrundgleichung besagt, dass nur drei Dinge von Belang sind, um mit der Rakete eine bestimmte Endgeschwindigkeit zu erreichen: Die Geschwindigkeit, mit der die Verbrennungsgase aus der Brennkammer entweichen (Ausströmgeschwindigkeit genannt), die Gesamtmasse der Rakete (die Rakete selbst plus die Treibstoffe, die sie mitführt) und die Leermasse (nur die Rakete ohne Treibstoffe):

Die Raketengrundgleichung

            vEnd                       = Endgeschwindigkeit der Rakete
            cGase                  = Ausströmgeschwindigkeit der Treibstoffe
            ln                       = natürlicher Logarithmus
            mgesamt             = Gesamtmasse der Rakete (vollgetankt beim Start)
            mleer                    = Leermasse der Rakete (ohne Treibstoffe)

Daraus folgt als erste Erkenntnis: Die Endgeschwindigkeit einer Rakete ist umso höher, je größer die Ausstromgeschwindigkeit der Verbrennungsgase ist.

Und damit ergibt sich der erste Schwachpunkt bisheriger Raketentechnik: Alle bisherigen Raketen – Feuerwerks- wie Kriegsraketen – beruhten auf dem Verbrennen von Feststoffen (in der Regel Schießpulvermischungen). Damit aber lassen sich nicht genügend große Ausströmgeschwindigkeiten erzielen, um aus dem Bereich der Erdanziehung zu kommen. Ausweg aus diesem Dilemma ist die Verwendung von energiereichen Flüssigkeiten wie Benzin oder Alkohol. Damit hatte Oberth die Flüssigkeitsrakete als einzig möglichen Weg in den Weltraum erkannt. Die maximal mögliche Ausströmgeschwindigkeit ergibt sich bei der Verwendung von Wasserstoff und Sauerstoff; sie liegt dann bei rund 5.000 m/s.

Die zweite Erkenntnis aus der Raketengrundgleichung: Die erreichbare Endgeschwindigkeit einer Rakete ist umso höher, je größer das Massenverhältnis ist – das ist der Bruch Gesamtmasse/Leermasse –, das heißt: je leichter die Rakete im Verhältnis zum mitgeführten Treibstoff gebaut werden kann.

Die Raketengrundgleichung besagt außerdem, dass die Endgeschwindigkeit einer Rakete größer sein kann als die Ausströmgeschwindigkeit der Gase – wenn man bei Konstruktion und Bau nur ein günstiges Massenverhältnis erreicht. Hat eine Rakete vollgetankt beim Start eine Masse von 100 Tonnen und sind davon 50 Tonnen Treibstoffe, dann bleibt nach Brennschluss eine Leermasse von ebenfalls 50 Tonnen. Das Massenverhältnis beträgt 100/50, also 2. Eine solche Rakete kann bestenfalls rund 70 Prozent der Ausströmgeschwindigkeit als Endgeschwindigkeit erreichen. Das Massenverhältnis von Feststoffraketen liegt für gewöhnlich in diesem Bereich.

Kann man die Rakete so stabil bauen, dass man in die gleiche Rakete 64 Tonnen Treibstoff füllen kann, ohne die Gesamtmasse zu erhöhen, bleibt nach Brennschluss eine Leermasse von 36 Tonnen, was ein Massenverhältnis von 100/36 ergibt, gerundet also 2,78. Dieser Wert für das Massenverhältnis – genauer: 2,71828 … – bedeutet, dass die Rakete maximal die Ausströmgeschwindigkeit der Gase als Endgeschwindigkeit erreichen kann. Erreicht man ein Massenverhältnis von 4 (was durchaus ambitioniert ist), kann die Rakete auf eine Endgeschwindigkeit kommen, die rund 40 Prozent über der Ausströmgeschwindigkeit der Gase liegt.

Rechnet man die Raketengleichung mit verschiedenen Ausströmgeschwindigkeiten durch, ergibt sich überraschenderweise, dass man selbst mit der Kombination aus Sauerstoff und Wasserstoff mit einer einfachen, das heißt einstufigen Rakete kaum in den Erdorbit kommt (weil das nötige Massenverhältnis technisch nicht zu verwirklichen ist). 1920, Oberth war von der Medizin zur Physik gewechselt, fand er auch dafür die Lösung: die Mehrstufen-Rakete. Ist die erste Stufe ausgebrannt, wird sie abgeworfen (was die Masse verringert) und die zweite Stufe gezündet, deren Geschwindigkeit sich zur Endgeschwindigkeit der ersten Stufe addiert.

Titel der Erstausgabe von Oberths Buch
Die Rakete zu den Planetenräumen

Seine Erkenntnisse fasst Oberth unter dem Titel Die Rakete zu den Planetenräumen zusammen. Doch geht er darin weit über die Raketengrundgleichung hinaus. Mit der Kühnheit der Jugend beginnt er das Buch mit vier verwegenen Behauptungen und dem Versprechen, ihre Plausibilität auf den folgenden Seiten aufzeigen zu können.

Beim heutigen Stande der Wissenschaft und der Technik ist der Bau von Maschinen möglich, die höher steigen können, als die Atmosphäre reicht.

Bei weiterer Vervollkommnung vermögen diese Maschinen derartige Geschwindigkeiten zu erreichen, daß sie … nicht auf die Erdoberfläche zurückfallen müssen und sogar imstande sind, den Anziehungsbereich der Erde zu verlassen.

Derartige Maschinen können so gebaut werden, daß Menschen (wahrscheinlich ohne gesundheitlichen Nachteil) mit emporfahren können.

Unter den heutigen wirtschaftlichen Bedingungen wird sich der Bau solcher Maschinen lohnen.

„In der vorliegenden Schrift“, so Oberth, „möchte ich diese vier Sätze beweisen.“

Im Anschluss an die mathematische Herleitung der Raketengrundgleichung befasst sich Oberth in dem Buch mit allen Aspekten des Weltraumfluges: Vom Raketentriebwerk über die Treibstoffe; von Satelliten (die er noch nicht so nennt; es sind einfach Raketen, die sich dauerhaft im Erdorbit aufhalten), die zur Wettervorhersage, Nachrichtenübermittlung, Energieversorgung oder auch für physikalische Experimente genutzt werden. Auch mit den Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper befasst er sich; oder mit der Frage, wie ein geeigneter Weltraumanzug beschaffen sein müsste. Mit der Rakete zu den Planetenräumen begründet Oberth (rein theoretisch) die gesamte Weltraumfahrt, weswegen man ihn auch den „Vater der Weltraumfahrt“ nennt.

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Theoretisch war man also schon relativ weit in den Weltraum vorgedrungen; die Praxis hinkte dem weit hinterher. Nicht einmal der erste Schritt in den Weltraum, der Start einer Flüssigkeitsrakete, war bis dahin getan worden. Ihn zu tun, gelang einem US-amerikanischen Ingenieur, der die Erkenntnisse, zu denen Ziolkowski und Oberth auf theoretischem Weg gekommen waren, unabhängig von ihnen auf experimentelle Weise zu gewinnen.

Auch Robert Hutchings Goddard (1882-1945) fand durch die Lektüre von utopischen Erzählungen und Romanen den Weg zur Weltraumfahrt. In seinen Tagebüchern gibt er sogar ein genaues Datum an: Am 19. Oktober 1899 machte er sich erstmals Gedanken darüber, wie es möglich sein könnte, eine andere Welt (in seinem Fall war es der Mars) auf technischem Wege zu erreichen. Erste Versuche zur Raketentechnik unternahm er 1915 an der Clark University in Worcester, Massachusetts, wo er physikalische Vorlesungen hielt. Die Ergebnisse dieser Experimente (im Wesentlichen Brennversuche in einer Vakuumkammer) fasste er in einem Paper zusammen: A method of reaching extreme altitudes (Eine Methode zum Erreichen sehr großer Höhen), das er an die Smithsonian-Stiftung sandte, die ihm daraufhin 5.000 Dollar für weitere Experimente bewilligte, was heute einer Summe von 70.000 Dollar entspräche.

Goddard kam in seinen Überlegungen und Experimenten ebenfalls zum Ergebnis, dass sich nur mit Flüssigkeitsraketen große Höhen erreichen lassen. Eine erste solche Rakete baute er im Dezember 1925: Sie war in einem Startgestell aufgehängt (also von vornherein nicht für einen freien Flug vorgesehen), wog leer etwa 6 Kilogramm und trug für rund 27 Sekunden ihr eigenes Gewicht (plus dem des Treibstoffs und des Startgestells) in die Höhe. Am 16. März 1926 schließlich gelang es Goddard, die erste frei fliegende Flüssigkeitsrakete der Welt zu starten: Sie war rund 6 Meter hoch, wog leer 2,7 Kilogramm, vollgetankt 4,7 Kilogramm, und erreichte eine Geschwindigkeit von 100 km/h, was sie 56 Meter weit und 12,5 Meter hochbrachte. Der Flug dauerte 2 ½ Sekunden.

Mit seinen Raketenstarts im dicht besiedelten Massachusetts sorgte er immer wieder für Beunruhigung in der ansässigen Bevölkerung, was darin gipfelte, dass er behördlicherseits „gebeten“ wurde, seine Raketen künftig woanders zu starten. Er siedelte um nach Roswell, New Mexico, was ihm erleichtert wurde durch die Intervention von Charles Lindbergh, der 1927 den Atlantik nonstop in einem Flugzeug überquert hatte. Lindbergh überzeugte den amerikanischen Unternehmer Daniel Guggenheim davon, Goddard eine Summe von 50.000 Dollar zur Verfügung zu stellen. In den folgenden Jahren perfektionierte er die Technik der Flüssigkeitsrakete immer weiter – wofür er über 80 Patente erhielt –, bis er 1941, nach dem Kriegseintritt der USA, für die amerikanische Marine (feststoffgetriebene) Hilfsraketen für den Start schwerer Flugzeuge zu entwickeln begann. Den größten Erfolg bei Flüssigkeitsraketen erzielte er am 26. März 1937, als eine seiner Raketen eine Höhe von über 2,5 Kilometer erreichte. Goddard, der zeitlebens mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, starb am 10. August 1945 an den Folgen einer Operation. Erst viele Jahre nach seinem Tod fand er in der amerikanischen Öffentlichkeit Anerkennung für seine technischen Leistungen im „Erreichen großer Höhen“. Heute gilt er allgemein als „Vater der Raketentechnik“.