8. Das A3

Im November 1937 hatte man vier A3-Raketen fertig gestellt, entwickelt noch weitgehend in Kummersdorf, gebaut bereits in Peenemünde. Da in Peenemünde Prüfstände erst ab 1939 zur Verfügung standen, wich man diesmal auf die Greifswalder Oie aus, einer kleinen Insel vor Usedom.

„Sie war“, wie Dornberger schreibt, „1 km lang, an der breitesten Stelle etwa 300 m breit, vom Nordrand Usedoms 8 km und von Rügen 12 km entfernt. Die lehmige, von Winterstürmen und Brandung zerfressene Steilküste erhebt sich bis zu 20 m über die Ostsee. Ein winziger Fischereihafen an der Südwestküste ist durch einen schmalen, sandigen Fahrweg mit dem Oberland verbunden. Der südliche Teil der Insel mit dem Gasthof und den wenigen Häusern diente uns als Unterkunft. Durch die Mitte der Insel zum Leuchtturm an der Nordspitze führte ein ausgefahrener Feldweg.“

Postkarte Greifswalder Oie (1960er Jahre)

Bereits im Frühjahr hatte man, fast zeitgleich mit Peenemünde selbst, begonnen, die Insel für den Start der A3-Exemplare auszubauen. „Der Hafen wurde ausgebaggert. Anlege- und Landungsmöglichkeit für schwere Fahrzeuge und Lasten mußten geschaffen werden. Der Feldweg zum Oberland erhielt einen festen Bohlenbelag. Vor dem östlich dieses Weges liegenden sturmzerzausten Wäldchens entstand eine viereckige Betonplattform. Ihr gegenüber, am Waldrand, wurde eine Grube ausgehoben. Ein Unterstand wurde gebaut.“

Danach folgte der Ausbau der Kommunikationstechnik: „Leitungen wurden gelegt und Kabel um Kabel vom Bunker zum Mittelpunkt der Plattform gezogen. Unterstand, Leuchtturm und Gasthof verband man durch eine Telefonleitung. Aus dem Unterstand wurde ein mit Sehschlitzen versehener Beobachtungsraum mit Meßgeräten aller Art an den Wänden. Dünne, kupferne Rohrleitungen wurden ausgelegt. Die Bauarbeiter errichteten vier kleine Betonpyramiden für die Fototheodolitstationen. Diese Betonpyramiden erhielten Holzplattformen und im Wäldchen, unmittelbar hinter dem Bunker, wurden zwei große, freie Plätze vorbereitet und eingeebnet.“

Nachdem die Bauarbeiter verschwanden, machten sie „einer neuen Welle geschäftiger Menschen Platz.“ Diese „brachten ein Riesenzelt, das sie auf einem der im Wäldchen freigemachten Plätze aufstellten. Auf dem zweiten bauten sie einen Bretterschuppen für Dieselöl und Spiritus. Im Hafen wurden Stromaggregate ausgeladen und in das Wäldchen geschafft. Lichtleitungen wurden gelegt. Schiffe brachten Betriebsstoffe, Materialien und Handwerkszeug.“ So vergingen „Wochen eifriger Tätigkeit“.

Im November trafen schließlich die Raketen ein. Doch gleichzeitig schlug das Wetter um: „Es regnete und stürmte.“ Man musste warten. Tagelang. Anfang Dezember endlich klarte der Himmel auf; die Wetterprognosen wurden günstig, und man begann mit den letzten Vorbereitungen zum Start der ersten Rakete. „Motorboote brachten alle für die Abhaltung des Versuchsschießens eingeteilten Leute auf die Insel. Schließlich waren fast 120 Akademiker und Ingenieure versammelt. Wer nur irgendwie am Rande mit der Entwicklung unserer Geräte zu tun hatte, wollte dabei sein.“

Der Start war für den 4. Dezember angesetzt. Vormittags gegen 10 Uhr wurde die Rakete auf dem Starttisch des Bedienungsgerüstes aufgestellt; nach Abschluss der Endprüfung wurde das Startgestell umgelegt, sodass die Rakete frei auf dem Starttisch stand. „Das Startgewicht betrug 750 kg“, so Dornberger. „Während 45 Sekunden sollte das Triebwerk bei einer Ausströmgeschwindigkeit der Gase von etwa 1900 m/sec einen Schub von 1,5 t geben.“ Nach dem Abheben der Rakete stieg sie drei Sekunden lang senkrecht in den Himmel, so wie sie es sollte. Danach – ging alles schief.

„Der Fallschirm“ schildert Gerd Reisig, einer der beteiligten Ingenieure, den weiteren Flug, „entfaltete sich und zog durch seinen Luftwiderstand bei weiterandauerndem Antrieb die Flugbahn der Rakete nach seiner Seite herum. In etwa 250 Meter Höhe, nach 6 1/2 sek. Flugzeit, schaltete der Antrieb automatisch ab. Durch ihre kinetische Energie erreichte die Rakete den Kulminationspunkt ihrer Flugbahn und stürzte dann, nachdem der Fallschirm größtenteils verbrannt war, steil ab. Etwa 300 Meter von der Startstelle entfernt schlug die Rakete am seeseitigen Rande des Inselwäldchens mit einer heftigen Explosion auf, die durch die Entzündung des restlichen Treibstoffgemisches verursacht worden war.“

Dazu Dornberger: „Was war schuld? Die Aussagen der beobachtenden Angehörigen der Heeresversuchsstelle Peenemünde gingen weit auseinander. Jeder wollte etwas anderes gesehen haben. Wir beschlossen, einen zweiten Abschuß zu wagen. Vom Leuchtturm aus beobachtete ich, wie die zweite Rakete sich vom Boden erhob. Wieder der gleiche Vorgang. Die Rakete führte kurz nach dem Start fast eine Viertelsdrehung um die Längsachse aus, neigte sich gegen den Wind, und nach wenigen hundert Metern Steighöhe wurde der Fallschirm ausgestoßen. Die Rakete verlöschte, sie fiel an der östlichen Steilküste der Insel ins Meer.“

Das Aggregat 3
Das Aggregat 3

Dornbergers Schlussfolgerung nach zwei Fehlschlägen: „Weder beim ersten noch beim zweiten Schuß konnten wir aus den geborgenen Trümmern auf die Ursache des Versagens schließen. Wir konnten nur vermuten. War der Fallschirm die Ursache? Arbeitete seine Auslösung falsch? Wir einigten uns, bei den beiden nächsten Raketen den Fallschirm wegzulassen.“

Am 8. Dezember startete also das dritte A3, diesmal ohne Fallschirm, doch mit dem gleichen Resultat: Die Rakete geriet außer Kurs, stürzte ab und explodierte. Und auch dem vierten und letzten Exemplar erging es am 11. Dezember so: Wenige Sekunden nach Zündung geriet die Rakete außer Kurs und stürzte ab.

„Dutzende von Theorien über die Unfallursache“ wurden entwickelt, so Gerhard Reisig, bis man schließlich die Lösung hatte.

Das Kreiselsystem der Rakete korrigierte Einflüsse von außen, die die Rakete außer Kurs brachten. Dazu gehörte auch die Drallbewegung, die eine Flüssigkeitsrakete instabil werden lässt. Das Kreiselsystem des A3 wirkte dieser Drallbewegung zwar entgegen, war aber nur bis zu einer Drallgeschwindigkeit von 6 Grad/Sekunde ausgelegt und hatte außerdem einen Regelbereich von maximal 30 Grad. Durch das sehr windige bis stürmische Wetter, das im Dezember 1937 auf der Oie herrschte, entstanden jedoch durch das Anblasen der Stabilisierungsflossen (die den Flug bei niedrigen Geschwindigkeiten stabilisierten) sehr viel schnellere Drallbewegungen (bis zu 21 Grad/Sekunde bei dem vierten gestarteten A3). Wenn die Rakete einen aufsummierten Drallwinkel von 30 Grad erreicht hatte (bei der vierten Rakete schon nach wenig mehr als einer Sekunde), war das Ende des Regelbereichs erreicht und die Stabilisierungswirkung ging verloren: Die Rakete wurde steuerlos, geriet außer Kurs und stürzte ab.

Dornberger nennt einen weiteren Grund für die Fehlschläge in Serie: „Wir erkannten, daß die Kraft der Steuermaschine nicht ausreichte, die Windkräfte auszuschalten … die Steuereinrichtung war schon beim Start nicht imstande gewesen, das Drehen der Rakete zu verhindern. Wir rechneten und prüften nach. Es ergab sich, daß schon bei 4 m/sec Seitenwind die Steuermaschine zu schwach war, um das Drehen der Rakete um die Längsachse auszugleichen. Auch die Ruderlaufgeschwindigkeit war zu gering. Das Steuergerät lieferte im höchsten Fall 25 m/kg Ruderleistung, während einer Dauer von 2,8 Sekunden. Wir mußten also möglichst die zehnfache Ruderleistung aufbringen, auch mußte die Winkelgeschwindigkeit der Ruder wesentlich erhöht werden.“

Die Fehler konnten zwar genau analysiert werden, dennoch entschied man sich, eine neue Rakete zu bauen, um das Problem des Lenk- und Navigationssystems systematisch zu untersuchen.