14. Aggregat 4 zieht in den Krieg
Anfang September 1943 hatte Wernher von Braun erklärt, dass die Entwicklung des A4 „praktisch zum Abschluss gekommen“ sei. Die letzten Starts seien, abgesehen von kleineren Pannen, erfolgreich verlaufen; die größte erreichte Schussweite habe 287,5 km betragen. Allerdings, musste er einräumen, habe man bisher noch keinen Start mit Nutzlast (also Sprengladung) absolviert, einen so genannten scharfen Schuss.
Diesen gleichsam letzten Schritt im A4-Programm wollte man in Blizna im Generalgouvernement tun. „Die neue Versuchsstelle lag hart nördlich der Haupteisenbahnstrecke von Krakau nach Lemberg in einer Lichtung von 1,5 km2 mitten im Wald. Vor dem Krieg hatten die Polen begonnen, dort einen Artillerieschießplatz anzulegen; die SS hatte das Gelände zu einem riesigen Truppenübungsplatz ausgebaut.
Die ursprünglichen polnischen Gebäude wurden zur Kommandantur; und für 16.000 Mann wurden Kasernen gebaut. Etwa 10 km von diesem ‚Heidelager‘ entfernt, hatte die SS das versprochene Startgelände für Raketen und – vom Frühling 1944 an – auch für Flugbomben vorbereitet.
Die Überwachung des Geländes übernahm die SS. Auf dem Startgelände wohnten 400 Mann Personal des Heeres unter dem Kommando des Obersten Gerhard Stegmaier; nur vier oder fünf höhere Offiziere gehörten der SS an. Abermals zeigte sich Himmlers Standardschema der unaufdringlichen Infiltration.“
Doch schon mit den ersten Teststarts im November 1943 erlebte man eine böse Überraschung: Mehr als die Hälfte der gestarteten Raketen zerlegte sich in der Luft – weshalb man das Phänomen Luftzerleger nannte. „Dieser Systemdefekt“, so Reisig, „ereignete sich vorwiegend im letzten Viertel der absteigenden Flugbahn.“ Das war auch der Grund, warum das bei den Starts in Peenemünde nicht aufgefallen war: Die Landephase der Raketen wurde nie direkt beobachtet. Die Entfernung wurde aus Flugparametern abgeleitet. In seltenen Fällen wurde sie bestätigt durch Flugzeuge, die ins Landegebiet der Rakete flogen und eine Farbmarkierung auf dem Wasser fotografierten. Diese Farbmarkierung hatte die Rakete gesetzt, indem beim Aufschlag eine Farbbombe explodierte.
Die Trümmer, die man in Blizna von den abgestürzten Raketen bergen konnte, lieferten zunächst keine eindeutigen Hinweise. Dornberger und von Braun vermuteten lediglich, dass sich die Resttreibstoffe (Alkohol und/oder Sauerstoff) beim Abstieg der Rakete erhitzten und dadurch die Explosion auslösten. Um herauszufinden, was genau bei den Luftzerlegern geschah, verschanzten sich von Braun und Dornberger, mit Feldstechern bewaffnet, im Zielgebiet und ließen Raketen auf sich abfeuern.
Die erste Rakete flog ohne Zwischenfälle. Aus ihrer Stellung „verfolgten sie unter Lebensgefahr den Anflug der zweiten Rakete. Dornberger erfasst sie frühzeitig mit seinem Glas und meinte, vor dem Zerlegen der Rakete gesehen zu haben, wie weißer Rauch aufstieg und die Rakete sich vor der Explosion schräg zur Flugbahn stellte. Der vordere Teil der Rakete mit dem Nutzlastkopf … flog alleine der Erde zu und schlug unweit auf, während große Teile der Rakete langsam zu Boden fielen.“
Als erste Erklärung wurde eine zu starke Hitzeentwicklung an der Außenhaut angenommen. Als Gegenmaßnahme befahl Dornberger, die Spitze und den oberen Mittelteil der Rakete mit einer Metallmanschette, der so genannten „Hose“, zu ummanteln. Die ersten Teststarts von so ausgerüsteten Raketen verliefen zwar erfolgreich, doch erwies sich das bald als Zufall: Keine einzige der zahlreichen „mechanischen Korrekturen“, die neben der „Hose“ noch angewendet wurden, konnte die Zerlegerrate wesentlich senken.
Schließlich wurde herausgefunden, dass der Grund für die Luftzerleger in der Aerodynamik lag: In der (antriebslosen) Abstiegsflugbahn gerät die Raketenlängsachse infolge des Dralls in eine Präzessionsbewegung (ähnlich einem Kreisel). Die Frequenz dieser Bewegung nimmt mit wachsender Fallgeschwindigkeit zu. „Dadurch kann die Luftkraftbelastung der Rakete so stark werden, daß die Zellenstruktur der Rakete zerbricht, d. h. der Fall der Luftzerleger eintritt.“
Um dem abzuhelfen, wäre es nötig gewesen, „eine leistungsfähige Drallsteuerung über die gesamte Länge der Flugbahn bis zur sicheren Aggregatlandung“ zu entwickeln. Doch hätte dies neue, umfangreiche Forschungsarbeiten verlangt, wozu angesichts der militärischen Lage Deutschlands keine Zeit blieb. Gelöst wurde das Problem erst bei der direkten Nachfolgerin des Aggregat 4, der Redstone-Rakete, entwickelt nach dem Krieg in Huntsville.
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Nachdem sich Himmler in Sachen Peenemünde bisher im Wesentlichen auf die unaufdringliche, quasi höfliche Infiltration gestützt hatte, griff er im März 1944 zu drastischeren Maßnahmen: Am frühen Morgen des 15. wurde Wernher von Braun, wie er selbst schreibt, „von drei Gestapomännern geweckt und in ihr Gefängnis in Stettin verschleppt, wo ich volle zwei Wochen schmachtete, ohne zu erfahren, warum ich überhaupt verhaftet worden war“. Neben von Braun wurden auch Klaus Riedel und Helmut Gröttrup inhaftiert.
„Der SD [Sicherheitsdienst der SS]“, so Irving, „hatte seit langem Agenten und V-Leute unter dem Personal von Peenemünde eingebaut; und deren Mitarbeiter wiesen darauf hin, daß die führenden Wissenschaftler etwas unorthodox seien: bereits am 17. Oktober 1943, als der erste Bericht über die Raketenfachleute den SD-Führern zugeleitet wurde, schien alles darauf hinzuweisen, daß drei der führenden Ingenieure, einschließlich von Braun selber, des Hochverrats schuldig waren.
Am 8. März wurde Generaloberst Jodl vertraulich unterrichtet, daß die Akten über diese drei Männer abgeschlossen seien. Wie sonst ganz ungewöhnlich, waren sowohl Oberst Heinrich vom SD als auch Major Klammroth von der militärischen Abwehr zum gleichen Schluß gekommen, obwohl ihnen verschiedene Unterlagen vorlagen. Nun wünschten sie Jodls Entscheidung, was unternommen werden solle.
Jodl, der dem Wehrmachtsführungsstab des OKW angehörte, spricht in seinen (zeitgenössischen) Aufzeichnungen von einem „edelkommunistischen Nest“; besonders verdächtig waren Riedel, ehemaliges Mitglied der Liga für Menschenrechte und Gröttrup, Mitglied der Paneuropa-Union. Riedel habe außerdem die Rakete als „Mordinstrument“ bezeichnet und „darüber hinaus hätten sich die drei ‚Äußerungen über [einen] schlechten Kriegsausgang‘ zuschulden kommen lassen“.
Wernher von Braun selbst schreibt, dass man ihn beschuldigte, bei der Entwicklung der A4 diese nicht vornehmlich als Kriegswaffe anzusehen, sondern hauptsächlich die Raumfahrt im Kopf zu haben und den „ungeheuren strategischen Nutzen“ des A4 sogar zu bedauern. „Diese Auffassung“, so Wernher von Braun, „war für Peenemünde nichts Besonderes, und so fühlte ich mich verhältnismäßig sicher …“
Schwerer wog eine andere Anklage. „Aber sie gingen weiter und beschuldigten mich, ein Flugzeug startbereit zu halten, um mit wichtigen Raketendaten nach England zu fliehen! Das würde schwer zu widerlegen sein, denn ich war gewohnt, eine kleine regierungseigene Transportmaschine zu benutzen, die ich auf Geschäftsreisen durch Deutschland selbst steuerte. Wie konnte ich beweisen, daß ich keine verräterischen Absichten hatte?“
Dornberger wurde nach Berchtesgaden zu einer Unterredung mit Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des OKW, beordert und von diesem über die Festnahme der drei Peenemünder unterrichtet. Keitel versicherte, dass das Ganze von Himmler selbst komme und er deshalb nichts dagegen unternehmen könne. „Auf Dornbergers Drängen rief Keitel schließlich im benachbarten Hauptquartier Himmlers an, der Reichsführer SS weigerte sich jedoch, Dornberger zu empfangen.“ Wütend musste Dornberger zurückreisen.
Am nächsten Tag fuhr er in das Reichssicherheitshauptamt in Berlin. Das Gespräch mit SS-Obergruppenführer Heinrich Müller verlief jedoch nicht sehr erfreulich. Dornbergers Bitte um die Entlassung der drei Peenemünder erwiderte Müller mit einer im Plauderton vorgebrachten Drohung: „Sie sind ein sehr interessanter Fall, Herr General. Wissen Sie, wie dick Ihre Akte hier bei uns gegen Sie ist?“ Dornberger musste auch hier unverrichteter Dinge abziehen; erlaubt wurde ihm immerhin, die Gefangenen in Stettin zu besuchen.
Aber inzwischen waren die Vorkommnisse in Peenemünde bis zu Albert Speer durchgedrungen. Speer, der unermüdliche Fürsprecher Peenemündes, lag seit 18. Januar 1944 wegen einer Knieinfektion, die sich zu einer lebensbedrohenden Erkrankung ausgeweitet hatte, im Krankenhaus. Dies hatte Himmler für den neuerlichen Versuch, Peenemünde unter seine Kontrolle zu bringen, zweifellos ausgenutzt. Doch Ende März reiste Speer zur Erholung in einen Kurort in den italienischen Alpen und machte dabei Zwischenstation in Berchtesgaden, wo er bei Hitler zugunsten der drei inhaftierten Peenemünder intervenierte. Worauf es „Dornberger gelang, in enger Zusammenarbeit mit … der militärischen Abwehr die einstweilige Freilassung von Brauns nach zwei Wochen und die der beiden anderen kurz darauf durchzusetzen“.
Hatten, fragt Irving, die Sicherheitsbehörden Recht, die drei zu verhaften? „Da Brauns Träume“, fährt Irving mit leiser Ironie fort, „sich gewiß mehr auf die Sterne als auf ein Ziel 1000 m ostwärts des Waterloo-Bahnhofs in London richteten, hatte er möglicherweise tatsächlich einmal vergessen, daß das deutsche OKH [Oberkommando des Heeres] nicht Milliarden von Reichsmark für die Erforschung des Weltraums ausgeben wollte.“
Und was Gröttrup betrifft, „liegt nur der Beweis vor, daß sowohl er als auch seine Frau ’starke demokratische Neigungen‘ hatten und daß sie aus diesem Grund verhaftet worden seien; wenigstens berichtete er das den alliierten Vernehmungsoffizieren im Mai 1945.“ Nach der deutschen Kapitulation arbeitete er weiterhin im Harz, in Bleicherode, nahe des ehemaligen Mittelwerks. In jenem Ort hatten die sowjetischen Besatzungstruppen das Institut für Raketenbau und Entwicklung RABE eingerichtet.
Es knüpfte an die A4-Produktion an, die 1944 und 1945 im benachbarten Nordhausen stattfand. 1946 wurde dieses in die Bleichenroder Zentralwerke umgewandelt und Gröttrup erhielt den Posten des Generaldirektors. Diese „Direktorenkarriere endete am Morgen des 22. Oktobers 1946. Aus der sowjetischen Besatzungszone wurden 5.000 Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure mit ihren Familien nach Russland deportiert. Hier mussten sie Forschungs- und Industrieprojekten zuarbeiten. Gröttrup und andere Raketenspezialisten waren zunächst nahe Moskau und später in Westrussland tätig. Die Deutschen lebten relativ gut, aber isoliert und sie erfuhren nicht, was aus ihren Arbeitsergebnissen wurde.“ Raketen waren in der Sowjetunion, wie zuvor im Dritten Reich, ein Staatsgeheimnis. Erst im November 1953 durften die Gröttrups die Sowjetunion verlassen.
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Anfang Mai 1944 stand fast die gesamte Infrastruktur zur Verfügung, die für den Kriegseinsatz des A4 notwendig war: Im Mittelwerk war Anfang des Jahres die Serienproduktion angelaufen – im Januar waren 50, im Februar 86, im März 170 und im April 253 Raketen gebaut worden (im Mai sollten es über 400 werden); die Schulung der Raketeneinsatztruppen, die die Rakete von mobilen Plattformen aus gegen den Feind schießen sollten, waren abgeschlossen; die Transport- und Versorgungslogistik für die mobilen Einsatzkommandos war gesichert und stand bereit.
Nur die Rakete selbst war noch immer nicht einsatzfähig. Zum einen kämpfte man noch immer gegen die Luftzerleger, zum anderen ließ die Fertigungsqualität des Mittelwerks noch zu wünschen übrig. Zahlreiche Raketen mussten, nachdem sie in Peenemünde getestet worden waren, ins Mittelwerk zur „Überarbeitung“ zurückgeschickt werden. Die Folge all dieser Verzögerungen war, dass die Fieseler 103, jetzt V1 genannt, vor dem Aggregat 4 zum Einsatz kam. Das V in V1 steht für Vergeltungswaffe; vergolten werden sollten die beständigen und verheerenden Luftangriffe auf deutsche Städte. Nach dem Motto Hitlers: „Terror bekämpft man nur mit Terror.“
Der Einsatz der neuen „Wunderwaffen“ sollte dazu beitragen, die lange erwartete Landung der Briten und Nordamerikaner an der nordfranzösischen Küste zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Aber die Alliierten waren schneller als die Deutschen. Am 6. Juni begann die alliierte Invasion an der nordfranzösischen Küste (D-Day) zwischen der Orne-Mündung und der Ostküste der Cotentin-Halbinsel: Unter dem Oberbefehl General Eisenhowers wurden auf über 5.000 Schiffen und mit 2.300 Transportflugzeugen innerhalb weniger Tage 320.000 Mann, 100.000 Tonnen Material und 50.000 militärische Fahrzeuge abgesetzt; bis Ende des Monats wuchs die Zahl der Truppen auf 850.000 Mann an.
Erst am 11. Juni folgte der V1-Einsatzbefehl für die Nacht vom 12. auf den 13. Juni. Nach ständigen Verzögerungen – hervorgerufen durch Luftangriffe der Alliierten im Startgebiet sowie durch technische Schwierigkeiten bei der Vorbereitung der Flugbomben – begann am frühen Morgen schließlich der Angriff auf London, der sich zunächst jedoch als Fiasko erweisen sollte.
Um 4.18 Uhr „explodierte die erste deutsche Flugbombe bei Gravesend, 30 km von ihrem Ziel, der Tower-Bridge, entfernt. Die zweite Bombe fiel in Cuckfield, die dritte in Bethnal Green (einem Londoner Stadtteil) und die vierte in Sevenoaks.“ Zwei Flugbomben waren bereits beim Start explodiert und zwei weitere „gingen schon über dem Kanal verloren. Bei dem Einschlag in Bethnal Green wurden eine Eisenbahnbrücke zerstört und 6 Menschen getötet – es waren die einzigen Ausfälle der Nacht.“
In England „kamen am nächsten Morgen die Stabschefs … zusammen, um diesen merkwürdigen Eröffnungsangriff zu besprechen: da sie auf die Detonation von 400 t Sprengstoff in London während der ersten zehn Stunden des Angriffs vorbereitet waren … mußten die vier gemeldeten Einschläge geradezu eine Enttäuschung bedeuten“.
Doch bald begann die Luftwaffe Hunderte von Flugbomben über den Kanal zu schießen, was zumindest kurzfristig eine beträchtliche Wirkung auf die kriegsmüde britische Zivilbevölkerung zeigte: „Die unverhältnismäßig hohe Sprengwirkung der Flugbombe … richtete Verheerungen unter den dicht zusammengedrängten Häusern der Londoner Vorstädte an; damals wurden täglich 20.000 Häuser beschädigt. In Croydon wurden annähernd drei Viertel der Häuser beschädigt oder zerstört; viele hundert Gebäude wurden mit einem Schlag eingedrückt. Das ist verständlich, da ein großer Teil der Flugbomben mit 914 kg Trialen gefüllt war, das etwa die doppelte Sprengwirkung hatte wie der konventionelle RDX-Sprengstoff … Diese trialengefüllten Bomben waren also mit den ‚Wohnblockknackern‘ von 2 t zu vergleichen, die Sir Arthur Harris‘ Staffeln über Berlin abwarfen. Die von den Flugbombenangriffen geforderten Opfer wären noch erheblich höher gewesen, wenn die Konstruktion der Waffe nicht einen kleinen Fehler gehabt hätte: der lärmende Motor setzte in dem Augenblick aus, in dem die Bombe zum Sturz ansetzte. Tausende von Menschen retteten ihr Leben dadurch, daß sie in der kurzen Frist, die dieses warnende Schweigen ihnen gewährte, sofort in Deckung gingen.
Dieses Zerstörungspotenzial der V1 führte zunächst dazu, dass die deutsche Führung sich beeindruckt zeigte: „Ende Juni 1944 erhielt Speer vom erfreuten Führer den Befehl, den monatlichen Ausstoß des A4 auf 150 Raketen zu drosseln und die freiwerdenden Ressourcen der V1-Fertigung zugute kommen zu lassen.“
Unter dem Beschuss Londons und Südenglands durch die deutsche V1 „stieg die Zahl der Opfer in Großbritannien stetig an: bis zum 27. Juni waren 1.769 Menschen getötet worden; am nächsten Tag hatte ein unglücklicher Zufall eine Flugbombe auf das Luftfahrtministerium fallen lassen, die 198 Menschen tötete; vier Tage später forderte eine in Chelsea explodierende Bombe 124 Opfer. (Der folgenschwerste V1-Einschlag erfolgte am 23. August in East-Barnet, bei dem 211 Menschen getötet wurden.)“
Doch gegen Ende August mussten sich die deutschen Truppen vor den heranrückenden Alliierten zunehmend aus Nordfrankreich zurückziehen. Die Abschussbasen gingen also verloren, und deshalb wurde am 1. September 1944 die (vorläufig) letzte V1 gegen London abgeschossen.
In London hielt man – was am 7. September auch öffentlich gemacht wurde – angesichts dieser Lage die Bedrohung durch deutsche V-Waffen für nicht mehr relevant. Und das war, obwohl am nächsten Tag gegen halb sechs Uhr (deutscher Zeit) die erste V2 gegen London gestartet wurde, auch die (tiefere) Wahrheit.
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Denn am 10. August hatte im unterirdischen Sitzungsraum des Kriegskabinetts der Crossbow-Ausschuss getagt – Crossbow ist der alliierte Tarnname für alle Aktionen zur Aufklärung und Bekämpfung der deutschen V-Waffen –, und dabei kam höchst Erstaunliches zur deutschen Fernrakete ans Licht. R. V. Jones, im britischen Nachrichtendienst zuständig für die deutschen V-Waffen, „schockierte“, so David Irving, „die Anwesenden mit dem Bericht über seine Schlußfolgerungen aus der Untersuchung des Treibstoffsystems der Rakete und aus Agentenmeldungen und Kriegsgefangenenvernehmungen, nach denen das Gewicht der Geschoßspitze wahrscheinlich zwischen 1 und 2 t liege, während das Gesamtgewicht der Rakete vermutlich 8 bis 12 t betrage.“
Das war tatsächlich eine schockierend kleine Sprengladung, die die Deutschen da gegen London feuern wollten. Lord Cherwell, Generalzahlmeister des Schatzamtes und Berater Winston Churchills, drückte es ein paar Tage später in einem Brief an den Premier mit drastischen Worten aus:
„Wenn man sich vor Augen hält, daß jede Rakete eine 1000-PS-Turbine, die zwei Kompressoren antreibt, ein höchst kompliziertes Brennstoff- und Kühlsystem, mindestens zwei Kreiselanlagen, die Hilfsmotoren zur Betätigung von Steuerrudern in Düsenstrahl und Flossen, zwei Funksender und drei Empfänger etc. besitzt – und das alles nur, um etwa die gleiche Sprengladung nach London zu befördern, wie es die Flugbombe [die V1] tut –, dann wäre, meine ich, Hitler berechtigt, jeden ins Konzentrationslager zu schicken, der ihm geraten hat, ein solches Projekt weiterzuverfolgen.“
Vermutlich war die V2 tatsächlich die ineffektivste Kriegswaffe, die je zum Einsatz kam (noch erheblich ineffektiver als die Paris-Kanonen). Obwohl sie durchaus mit ein paar furchterregenden Parametern aufwarten konnte: So schlug sie mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit in ihr Zielgebiet ein und riss dabei riesige und tiefe Krater. Vor allem aber gab es wegen der hohen Geschwindigkeit – bei Brennschluss hatte sie eine Geschwindigkeit von über Mach 5; nichts flog damals auch nur annähernd so schnell – für die Angegriffenen weder eine Abwehrmöglichkeit noch eine Vorwarnung. „Die erste Nachricht, die man erhält“, sinniert eine Romanfigur in Thomas Pynchons Die Enden der Parabel über eine V2 im Anflug, „ist die Explosion. Danach – wenn’s einen danach noch gibt –, danach erst hört man das Geräusch ankommen.“
Das Aggregat 4 war die komplexeste Maschine, die auf diesem Planeten bis dahin gebaut worden war, oder, wie der Science-Fiction-Schriftsteller Arthur C. Clarke schrieb: „In der V2 … darf man vielleicht die größte Einzelleistung sehen, auf die bis dahin die Geschichte des technischen Fortschritts zurückblicken konnte.“ Aber als Waffe war sie nichts weiter als eine „extravagante Unerheblichkeit“ (Irving), die keinerlei Auswirkungen auf den Kriegsverlauf hatte.
Die erste V2 erreichte London am Abend des 8. September 1944. Gezielt hatte man auf die Southwark Bridge in der Nähe der City of London, eingeschlagen ist die Rakete im Stadtteil Chiswick in der Staveley Road, mehr als 10 Kilometer südwestlich des anvisierten Ziels. Drei Menschen wurden getötet, 15 schwer verletzt, 11 Häuser zerstört. Insgesamt fielen der V2 in London 8000 Menschen, in Antwerpen rund 6000 Menschen zum Opfer. Beim Ausbau des Mittelwerks von September bis Dezember 1943 starben etwa 5000 Menschen. Insgesamt fielen der V2 knapp 20000 Menschen zum Opfer.
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Etwa zur gleichen Zeit, im Frühjahr 1942, als die Entwicklung der V2 (noch als A4) in die letzte Phase einmündete, wurde in den USA begonnen, die zweite Großforschungseinrichtung der Welt zu bauen.
Deutschland hatte den USA am 14. Dezember 1941 den Krieg erklärt, nur wenige Tage nach dem Angriff der Japaner (Verbündete des Deutschen Reiches) auf Pearl Harbor; noch schien es, als könnte nichts die Kriegsmaschinerie der Achsenmächte aufhalten: Fast ganz Europa und Nordafrika war deutsch besetzt, große Teile Asiens japanisch. Im Sommer 1942 fanden die Amerikaner heraus, dass in einem norwegischen Werk (auch Norwegen war von den Deutschen besetzt) größere Mengen an nuklearem Material hergestellt wurde. Da außerdem bereits bekannt war, dass sich aus derartigem Material Bomben von bis dahin nicht bekannter Sprengkraft herstellen ließ und überdies, dass sowohl in Deutschland als auch in Japan an so genannten „Uran-Projekten“ gearbeitet wurde, begann Mitte September 1942, wenige Wochen vor dem ersten erfolgreichen Start der V2, das Manhattan Project, um den Deutschen und/oder Japanern beim Bau der ersten Atombombe zuvorzukommen.
Die Entwicklungs- und Forschungszentrale des Manhattan-Projekts wurde in der Wüste New Mexicos in der Nähe von Los Alamos auf einem Gelände mit einer Fläche von 22000 Hektar aufgebaut. Die besten Forscher und Techniker aus den USA sowie europäische Immigranten die aus ihren deutsch besetzten Heimatländer geflüchtet waren (darunter insgesamt fast ein Dutzend Nobelpreisträger), fanden sich zusammen, um den Krieg möglichst schnell und (für die Alliierten) siegreich zu beenden.
Unter der Gesamtleitung von General Leslie Groves begannen noch im September 1942 die Arbeiten zum Bau einer Atombombe. Die technische Leitung hatte der US-amerikanische Physiker Robert Oppenheimer (war in Los Alamos also das, was Wernher von Braun in Peenemünde war). Auch die Management-Methoden in Los Alamos und Peenemünde ähnelten sich: Eine staatliche (militärische) Einrichtung hatte die Leitung inne, gab das Großeganze vor, gleichsam den Masterplan, während Einzelaufträge, die der Erfüllung dieses Masterplans dienten, an private Firmen oder universitäre Einrichtungen vergeben wurden.
Am Manhattan-Projekt waren etwa ein Dutzend Forschungseinrichtungen außerhalb von Los Alamos beteiligt, wo etwa spaltbares Material wie Uran-235 oder Plutonium gewonnen wurde. Zeitweise arbeiteten am Manhattan Project rund 100.000 Menschen. Erfolgreich abgeschlossen wurde es am 16. Februar 1945 mit der Zündung der ersten Atombombe (namens Trinity) auf dem Testgelände von White Sands.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland bereits kapituliert, sodass sich ein Einsatz der Waffe über deutschem Gebiet erübrigte. Das japanische Kaiserreich hingegen kämpfte weiter, und so befahl Harry S. Truman, nach dem Tod Roosevelts neuer Präsident der Vereinigten Staaten, den Einsatz der Atombombe: Am 6. August 1945 wurde Hiroshima (350.000 Einwohner), am 9. August Nagasaki (200.000 Einwohner) völlig zerstört. Am 2. September 1945 schließlich unterzeichneten auch Vertreter Japans die Kapitulationserklärung. Damit war der 2. Weltkrieg sozusagen offiziell beendet.