18. Dallas, Texas
Als John F. Kennedy im September 1962 nach Houston reiste und im Football-Stadion der University of Rice eine Rede hielt, in der er sich ausschließlich mit der Raumfahrt befasste, hatte das Apollo-Programm endgültig volle Fahrt aufgenommen. Ein paar Meilen südöstlich des Stadions war im Sommer mit dem Bau des Manned Spacecraft Centers begonnen worden, und tausend Meilen weiter östlich in Florida entstand gerade des Kennedy Space Center (KSC), dem Montage- und Startkomplex für die Mondrakete. Allein diese beiden Einrichtungen verschlangen Milliardenbeträge, die den amerikanischen Steuerzahler (und Wähler) spürbar belasteten. Und noch sehr viel größere Summen würden für die anstehende Entwicklung und den Bau der eigentlichen Mond-Hardware – Raumschiff, Mondlander und Mondrakete – anfallen.
Kennedy verschwieg oder beschönigte diese Kosten nicht nur nicht, er stellte sie sogar noch heraus: „Der Raumfahrtetat dieses Jahres ist dreimal höher als noch im Januar 1961, und er ist höher als der gesamte Raumfahrtetat der letzten acht Jahre zusammen.“ Und die Kosten, fuhr er fort, „werden bald noch weiter steigen … von 40 Cent pro Person und Woche auf über 50 Cent für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten, denn wir haben diesem Programm eine hohe nationale Priorität eingeräumt, auch wenn mir bewusst ist, dass dies in mancher Hinsicht ein Akt des Glaubens und der Vision ist, weil wir nicht wissen, welche Vorteile uns erwarten.“ Und er schloss mit den Worten: „Wir haben uns entschlossen, noch in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen, nicht weil es leicht ist, sondern gerade, weil es schwer ist; und weil dieses Ziel am besten unsere Energien zu bündeln und unsere Fähigkeiten herauszufordern vermag.“
Kennedy verband in seiner Rede – in der übrigens das Wort Apollo kein einziges Mal fiel, denn in der amerikanischen Öffentlichkeit war Apollo noch nicht das Synonym für die bemannte Mondlandung (es sollte aber nicht mehr lange dauern, bis es das wurde) – die Raumfahrt mit Freiheit, Wohlstand und Sicherheit, die gewahrt beziehungsweise gesichert würden, wenn es den Amerikanern gelänge, ihren bisherigen Rückstand im All gegenüber den Russen mit dem Projekt der bemannten Mondlandung wettzumachen. Es ist diese Rede Kennedys, die sich ins Gedächtnis der amerikanischen Raumfahrtnation gegraben hat. Vielfach wird aus der Rice-Rede zitiert, wenn die Kongressrede gemeint ist (oder umgekehrt). We choose the Moon – Wir fliegen zum Mond, im Sinne von: Wir haben uns entschlossen – ist eine in Amerika allgemein bekannte Sprachfloskel, die in allen möglichen Zusammenhängen benutzt wird.
Schon wenige Wochen nach seinem Auftritt im Rice-Stadion sah sich Kennedy in puncto Sicherheit mit der größten Bedrohung seiner Amtszeit konfrontiert. Am Sonntag, dem 14. Oktober 1962, fotografierte die Dragon Lady, so der Spitzname des Aufklärungsflugzeugs U-2, wie bei San Cristóbal im Nordwesten Kubas sowjetische Techniker Startrampen für atomar bestückte Mittelstreckenraketen des Typs SS-4 und SS-5 aufbauten. Für beide Raketentypen lagen bei einer Vorwarnzeit von lediglich rund 5 Minuten wichtige US-amerikanische Großstädte, einschließlich der Hauptstadt, in Reichweite. Am 16. Oktober wurde Kennedy darüber informiert.
Zwei mögliche Reaktionen auf die sowjetisch-kubanische Provokation wurden dem Präsidenten unterbreitet: Die US-Militärs forderten sofortige Luftangriffe gegen Kuba, während sich US-Politiker, allen voran der Verteidigungsminister Robert McNamara, zunächst für eine Seeblockade Kubas aussprachen. Kennedy entschied sich für die gemäßigte Blockade-Option. Am 22. Oktober machte Kennedy in einer Fernsehansprache die Geschehnisse auf Kuba öffentlich. Seiner Forderung nach dem sofortigen Abzug der Raketen entgegnete Chruschtschow, diese dienten ausschließlich der Verteidigung.
Am 24. Oktober begann die Seeblockade. Sowjetische Schiffe wurden davon abgehalten, sich den Küsten Kubas zu nähern, sowjetische U-Boote mit Wasserbomben zum Auftauchen gezwungen. Bei Letzterem kam es am 27. Oktober 1962 zu einem Zwischenfall, der die Welt nur wenige Minuten vom Ausbruch eines Atomkriegs trennte: US-Zerstörer stellten das sowjetische U-Boot U-59 in internationalen Gewässern und versuchten, es zum Auftauchen zu zwingen. Der Kommandant des Boots zog den Einsatz von Nukleartorpedos in Erwägung, da er es aufgrund des aggressiven Vorgehens der US-Navy (die von der atomaren Bewaffnung des U-Boots nichts wusste) für möglich hielt, dass der Krieg bereits ausgebrochen sei. Für den Abschuss einer Atomwaffe war jedoch die Zustimmung dreier Führungsoffiziere nötig, und einer davon, Wassili Alexandrowitsch Archipow, weigerte sich, sie ohne Rücksprache mit Moskau zu geben.
Fast zeitgleich erreichte John F. Kennedy ein diplomatisches Schreiben Chruschtschows, in dem dieser als Gegenleistung für den Abzug der Raketen den Verzicht der USA auf eine Invasion Kubas forderte, außerdem, dass die USA ihrerseits die in der Türkei stationierten Atomraketen vom Typ Jupiter PGM-19 abziehen. Gegen seine eigenen Militärberater, die noch immer Luftangriffe mit anschließender Invasion Kubas forderten, entschied sich Kennedy, auf das Angebot Chruschtschows einzugehen, stellte allerdings seinerseits eine Bedingung: Der Abzug der amerikanischen Jupiter-Raketen aus der Türkei musste vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden. So konnte sich Kennedy den amerikanischen Wählern als Hardliner präsentieren, der vor den Sowjets nicht eingeknickt war. Chruschtschow hatte damit keine Probleme, und so begann im November der beiderseitige Abzug von Atomraketen: vor den Augen der Öffentlichkeit der russischen aus Kuba und im Geheimem der von amerikanischen aus der Türkei.
Lee Harvey Oswald, der den Ausgang der Kuba-Krise (aufgrund der Geheimhaltung) als Niederlage oder zumindest als Düpierung der Sowjetunion erlebte, fiel durch verstärkte kommunistische Agitation auf. Am Arbeitsplatz außerdem durch mäßige Arbeitsleistung sowie durch seine Streitlust, die des Öfteren in Handgreiflichkeiten endeten. Zum 1. April 1963 kündigte ihm die Firma schließlich, weil er in der Kantine die sowjetische Satirezeitschrift Das Krokodil gelesen hatte. Einige Tage später begann er das Haus des konservativen, strikt antikommunistisch eingestellten Generals a. D. Edwin A. Walker zu beobachten. Am 10. April schoss er mit einem Gewehr, das er sich auf dem Postweg besorgt hatte, auf Walker, verfehlte ihn aber. Zwar verdächtigte ihn niemand als Urheber dieses fehlgeschlagenen Attentats, dennoch zog er es vor, danach mit seiner Familie (vorübergehend) nach New Orleans zu ziehen.
*
Am 22. November 1963 trat Kennedy die Reise nach Dallas, Texas, an, in einen Bundesstaat des Südens, wo er ganz allgemein schlecht beleumundet war. Man hielt ihn dort für einen liberalen Feigling, der ständig und ohne Not vor Kommunisten und Negern (damals die übliche Bezeichnung für Schwarze) zurückwich und ihnen damit immer mehr Terrain kampflos überließ. Das Einzige, was aus Sicht eines anständigen Südstaatlers für Kennedy sprach, war sein Vize, der Texaner Lyndon B. Johnson. Noch einen Tag zuvor hatte Edward Walker in einer Rede im Dallas Memorial Auditorium Kennedy beschuldigt, er knicke vor der UNO ein, die im Übrigen nichts weiter sei als Teil einer kommunistischen Weltverschwörung. Nirgendwo in den USA waren seine Gegner so laut, unversöhnlich, aggressiv bis hin zum offenen Hass. Wollte er die Wahl im kommenden Jahr gewinnen, musste er sein Image in den Südstaaten deutlich aufbessern. Das war das Hauptziel der Reise nach Dallas, seiner nach San Antonio, Houston und Fort Worth letzten geplanten Station in Texas.
Um dort mehr Anhänger zu gewinnen (oder zumindest mehr Zuspruch zu finden), hatte er eine Rede vorbereiten lassen, deren Geist ganz und gar zugeschnitten war auf das Amerika der Ed Walkers: Sie wollten von der Bedrohung des Friedens durch den sich immer mehr ausbreitenden Kommunismus hören – die Rede bestätigt es ihnen anhand der Situation in Südostasien (Vietnam wird namentlich erwähnt); als Lösung wollten sie von Amerikas Stärke hören – Kennedy ist der gleichen Meinung. Die Weltraumfahrt sieht er als Ausdruck dieser Stärke und als Symbol für Amerikas Rolle im Kampf gegen den Kommunismus – vom Aufbruch zu neuen Grenzen ist nicht mehr die Rede. Er feiert Amerika als Land des Lichts, das auch und gerade mit militärischen Mitteln gegen den Kommunismus, der Idee des Dunklen, vorzugehen habe. Aus new frontiers (neuen Grenzen) werden gleichsam neue Fronten.
Nach seiner Ankunft am Flughafen wechselte Kennedy in einen offenen Lincoln Continental, um sich zum Handelszentrum (Trade Mart) fahren zu lassen, wo er die Rede halten sollte. Gegen 12 Uhr bog der Lincoln von der Houston Street in die Elm Street ab, wenig später fiel der erste von drei Schüssen, abgegeben von Lee Harvey Oswald innerhalb von etwa 11 Sekunden aus dem sechsten Stock des Texas Schoolbook Depository. Der erste Schuss ging daneben, der zweite traf Kennedy in den Rücken, der dritte seitlich am Kopf. Im Parkland Memorial, in das Kennedy ein paar Minuten später eingeliefert wurde, konnte nur noch der Tod des Präsidenten festgestellt werden.
Die Geschehnisse nach dem Attentat erlebte die Nation im Sperrfeuer der Medien quasi in Echtzeit – stets waren irgendwo Journalisten, Fotografen, Kameraleute anwesend: Oswalds Flucht vom Tatort (wobei er einen Polizisten tötete), wie er kurz darauf vor einem Kino gestellt und verhaftet wurde (was ihn vor einem Lynchmob rettete), die zahlreichen Verhöre und schließlich die versuchte Überführung ins Bezirksgefängnis von Dallas. In der Tiefgarage, wo Oswald in den wartenden Polizeiwagen verfrachtet werden sollte, gelang es Jack Ruby, einem paranoiden Nachtclubbesitzer, sich durch die zahlreichen Polizisten zu drängeln und auf Oswald – vor laufenden Kameras – zu schießen. Auch Oswald, in den Bauch getroffen, wurde ins Parkland eingeliefert, wo er wenig später an inneren Blutungen starb.
John F. Kennedy wurde am 25. November 1963 auf dem Nationalfriedhof von Arlington beigesetzt. Wie im ganzen Land, so verfolgte man auch in Huntsville die Zeremonie im Fernsehen. Natürlich auch Wernher von Braun. Seine Sekretärin sagte darüber später, es sei das einzige Mal gewesen, dass sie ihn habe weinen sehen. Aber auf Projekt Apollo hatte der Mord an Kennedy eine „paradoxe Auswirkung“: Es wurde zur nationalen Ikone. Weder wurde das Projekt der bemannten Mondlandung an sich hinterfragt noch der von Kennedy vorgegebene Zeitrahmen. Mit dem Tod Kennedys wurde „before this decade is out“ zur unwiderruflichen Deadline, sowohl für die direkt daran beteiligten Ingenieure und Techniker, Hunderttausende an der Zahl, als auch für die Millionen, die das Projekt über ihre Steuern finanzierten und es medial mitverfolgten.