4. Zwischenspiel mit RAKs
In den Weltraum wollte auch Max Valier vorstoßen. Ein wenig näher kam er ihm, als er, der Südtiroler, der erst vor kurzem nach München umgezogen war, in den ersten Januartagen des Jahres 1924 in der Auslage einer kleinen Buchhandlung Oberths Schrift Die Rakete zu den Planetenräumen erblickte. Der Titel faszinierte ihn. Und obwohl seine finanzielle Lage durchaus als schwierig zu bezeichnen war, kaufte er das Buch.
Max Valier, am 9. Februar 1895 in Bozen, Südtirol, geboren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, hatte nach 1918 sein vor dem Ersten Weltkrieg in Wien begonnenes Studium der Astronomie und Physik abgeschlossen, arbeitete an seinem ersten Buch, Der Sterne Bahn und Wesen (das 1926 in erster Auflage erschien), und lebte im Übrigen von Lichtbildvorträgen, die er zum Thema Astronomie vor (zahlendem) Laienpublikum hielt (Valier war ein begnadeter Redner).
Nachdem er das Buch gelesen hatte, schrieb er schon ein paar Tage später, am 8. Januar 1924, je einen Brief an Hermann Oberth, dem Autor, und an den Oldenbourg-Verlag, der das Buch veröffentlicht hatte. Er schlug darin vor, Oberths für ein allgemeines Publikum kaum verständliches Werk populärwissenschaftlich aufzubereiten; außerdem mit Artikeln in Zeitschriften und Zeitungen sowie durch Lichtbildvorträge Propaganda für die Weltraum-Rakete zu machen. Oberth stimmte begeistert zu, und schon wenige Wochen später erschienen mehrere Artikel in diversen Zeitungen, die Reklame machten für die Rakete. Im Herbst folgte das Buch Der Vorstoß in den Weltenraum, eine technische Möglichkeit. Zwar gelang es nicht, wie von Valier beabsichtigt, Finanziers für die experimentelle Erforschung der Raketentechnik aufzutun, aber es war der Beginn eines neuen Mythos: dem der Rakete und der Weltraumfahrt. Bis Ende der 1920er erreichte er im deutschen Sprachraum eine Popularität wie nirgendwo sonst auf der Welt.
In einem weiteren Brief an Oberth entwickelte Valier bereits im Sommer 1924 seinen Vier-Etappen-Plan in den Weltraum:
Die 1. Etappe dient der wissenschaftlich exakten Erforschung bisheriger (also feststoffgetriebener) Raketen;
in der 2. Etappe sollten mit derartigen Raketen, eingebaut in Bodenfahrzeuge aller Art, Menschen befördert werden;
die 3. Etappe sieht den Einbau von Raketen in Flugzeuge vor und die
4. Etappe schließlich dient der „Schaffung eines durch Raketenkraft angetriebenen Stratosphärenflugzeuges, das in seiner weiteren Vervollkommnung immer höher in den Luftkreis hinaufdringt und immer größere Geschwindigkeiten entfaltet, bis dereinst der Vorstoß an die Grenze des leeren Raumes möglich sein wird“.
Hier kündigen sich schon die ersten Misshelligkeiten zwischen Valier und Oberth an, denn Oberth hielt nichts davon, Fahrzeuge jedweder Art mit Raketen anzutreiben. Bei niedrigen Geschwindigkeiten, so sein Argument, haben Raketen einen sehr geringen Wirkungsgrad (10 % und weniger). Valier hingegen war der Meinung, dass man das in Kauf nehmen könne, weil man dafür schließlich Erfahrung im Umgang mit Raketen gewinne.
Aber Investoren waren dünn gesät im Raketengeschäft. Obgleich Valier unermüdlich durch den deutschsprachigen Raum tingelte und Hunderte von (gut besuchten) Vorträgen hielt, Dutzende von Artikeln für zahllose Zeitungen und Magazine schrieb (auch sie wurden gerne und mit großer Resonanz abgedruckt), zahlreiche Spendenaufrufe an deutsche Unternehmer formulierte – über Jahre hinweg tat sich finanziell praktisch nichts. Da hatte seine Frau, Hedwig Valier, eine Idee: Er solle sich doch an Fritz von Opel wenden, dem Industriellen; der war Leiter der Versuchsabteilung der Opel GmbH und außerdem zuständig für die Public Relation des Unternehmens. Daneben war er bekannt als Motorsportler, der vom Rennrad über den Rennwagen bis hin zum Motorboot alles gesteuert hatte, was schnell war.
Ein solcher Mann, vier Jahre jünger als Valier, erkannte natürlich sofort, was sich ihm da für eine Gelegenheit bot – sowohl für sich persönlich (quasi als Abenteurer) als auch werbetechnisch für die Firma Opel. Und deshalb waren sie sich auch schnell einig. Am 8. Dezember 1928 wurde der Vertrag geschlossen, in dem Fritz von Opel sich verpflichtete, sämtliche Kosten zu übernehmen, die bei der Umsetzung des Valier’schen Vier-Etappen-Planes entstanden – von der ersten technischen Bestandsaufnahme bisheriger Raketentechnik bis hin zum Bau von Stratosphärenflugzeugen. Valier war zuständig für Entwicklung und Bau aller benötigten Raketen.
Als Raketenlieferant fand Valier die Firma Cordes in Wesermünde bei Bremerhaven, die von Friedrich Wilhelm Sander, einem Maschinenbauingenieur aus Schlesien, 1920 übernommen worden war. Sie stellte Feststoffraketen zur Rettung von in Seenot geratener Schiffe her.
Gemäß der von ihm formulierten 1. Etappe begann Valier zusammen mit Sander, der dafür auch die Laboratorien und die Gerätschaften zur Verfügung stellte, mit ganz grundsätzlichen Versuchen zur Technik der Feststoffraketen. Sie bauten Valiers schon vor zwei Jahren in einem Brief an Oberth entworfenen Raketenprüfstand – ein Wort, das vielleicht etwas zu groß gegriffen ist angesichts der einfachen Wiegevorrichtung nach Art einer Kartoffelwaage –, mit dem sich auf recht simple Weise der Rückstoß einer eingespannten Rakete messen ließ. Auf diese Weise entstanden umfangreiche Messreihen über den Schub von Raketen verschiedenster Kaliber und Längen.
Aus diesen Messreihen ließ sich die Ausströmgeschwindigkeit der Gase bestimmen, was ja eines der wesentlichen Kriterien für den Raketenantrieb darstellt. Darüber hinaus wurde mit Größe und Form der Düse experimentiert, um damit die Ausströmgeschwindigkeit zu steigern; auch das Pressen des Schießpulvers (dessen genaue Zusammensetzung im Übrigen das Geheimnis Sanders blieb) wurde untersucht: Presst man es nämlich zu stark zusammen, kommt es vermehrt zu Haarrissen, die beim Zünden der Rakete dann zur Explosion führen.
Die Arbeiten gingen so flott von der Hand, dass man bereits Anfang März mit den ersten Raketen-Versuchsfahrten beginnen konnte. Valier und Sander reisten mit einer Handvoll Raketen nach Rüsselsheim, wo Fritz von Opel einen Wagen zur Verfügung stellte. Diesen Wagen hatte Kurt Volkhart, Kfz-Mechaniker und Rennfahrer, zum ersten Raketenwagen umgebaut. Grundlage des Wagens war das Chassis des Opel 10/40 Typ 80, der seit 1925 in Serie gebaut wurde. Auf dieses Chassis wurde ein Monoposto (eine Rennwagenkarosserie) aufgesetzt. Das Cockpit war hinter dem Fahrersitz mit einer Stahlplatte vom Heck des Fahrzeugs abgetrennt. Der Raum unter der langen Motorhaube war leer, denn der Wagen hatte keinen Motor; als Antrieb dienten ausschließlich die im Heck montierten 12 Feststoffraketen.
„Um die Raketen nach Belieben des Fahrers und exakt nach programmiertem Zeitplan elektrisch zünden zu können“, schreibt Michael Graf Wolff Metternich, „war eine steuerbare Zündmaschine entwickelt worden. Bei diesem Apparat waren Elektrokontakte auf einer Isolierscheibe eingerichtet. Über diese glitt ein von einem Uhrwerk angetriebener Schleifzeiger in gleichmäßigen Zeitabschnitten. So ließen sich die Raketen einzeln und hintereinander zünden, sobald diese durch die jeweiligen Kabel mit den Kontakten Stromverbindung erhielten. Entscheidend war das Ein- und Ausschalten der Steuerung des Uhrwerkes, welches über ein Fußpedal des Fahrers, eine Art Gaspedal, bedient wurde.“
Am 11. April 1928 stand der Wagen auf der firmeninternen Opel-Rennstrecke in Rüsselsheim bereit für den ersten Raketenstart eines Bodenfahrzeugs. Neben Max Valier, dem Ideengeber, und Friedrich Wilhelm Sander, dem Raketenbauer, war auch der Finanzier Fritz von Opel auf der Strecke. Zunächst, so wurde behauptet, soll es einen kurzen, aber heftigen Streit gegeben haben, weil Valier darauf bestand, die Jungfernfahrt zu absolvieren. Doch Volkhart selbst bestreitet das: „Es war nie ein Zweifel darüber entstanden, daß nur ich dafür in Frage kam.“
Weiter schreibt Volkhard: „Inzwischen hatte sich auf der schmalen Brücke, die am Ausgang der Nordkurve die Bahn überspannte, der bekannte Frankfurter Photograph Dr. Wolff mit seinem Kino-Aufnahmegerät postiert, um den Start und den Verlauf der Fahrt als bleibendes Dokument aufzunehmen. Es waren noch eine Anzahl anderer Leute zugegen, darunter zwei Herren der Presse.“ Also nicht die ganz große Öffentlichkeit, denn man wollte bei diesem ersten Versuch so wenig Publikum wie möglich dabeihaben. „Valier als ‚Vater der Idee‘ wollte es sich nicht nehmen lassen, das Zeichen zum Start des ersten Raketenwagens der Welt durch Winken mit einem weißen Taschentuch zu geben … Ich stieg ein, setzte mich gut zurecht und schob die Brille herunter.“
Bei der folgenden Fahrt erreichte Volkhart nach 6 Sekunden zwar 70 km/h, kam aber nicht weiter als 600 Meter. Bei der zweiten Fahrt, mit acht Raketen im Rücken, erreichte er 80 km/h, bevor er die Rennbahn jedoch ganz umrunden konnte, explodierte eine Rakete, eine andere zündete gar nicht. Trotz dieser Versager, bei dem weder Fahrer noch Fahrzeug zu Schaden kamen, wollte das Team am nächsten Tag weitere Fahrten unternehmen.
Und so „versammelten sich am 12. April 1928 nachmittags an der Opel-Rennbahn eine große Schar wichtigtuender Journalisten und Motorsachverständiger um einen prachtvollen, kleinen Rennwagen, der schwarz lackiert mit silbrig glänzender Frontpartie und der werbewirksamen Aufschrift Opel Sander-Rakete (auch Opel Rak 1 genannt) still und harmlos bei Start und Ziel steht. Die Werbeabteilung der Opel-Werke … hat gute Vorarbeit geleistet. Alles, was Rang und Namen hat in der Zeitungswelt, ferner Fotografen, Kameraleute und der Rundfunk sind herbeigeeilt. Ein sensationelles Jahrhundertereignis gilt es, aller Welt kundzutun.“
Und zu einer Sensation wurde die Fahrt tatsächlich: Volkhart startete die Raketen vorschriftsmäßig, zwei Raketenbatterien zündeten und ließen den Wagen davonschießen, mit über 100 km/h an der vollbesetzten Tribüne vorbei; die Menge jubelte dem Wagen zu. Volkhart wollte für die Gegengerade die letzte Batterie an Raketen zünden, aber … nichts rührte sich. Die Zündschnüre zu den Raketen waren durch das Feuer der schon abgefeuerten Raketen durchgeschmort. Doch von dieser Fehlfunktion kriegten die Zuschauer nichts mit; für sie sah es hinter all dem Qualm und Staub, den der Wagen aufgewirbelt hatte, so aus, als wäre alles funktionsgemäß abgelaufen.
Ein paar Tage danach veröffentlichten diverse Zeitungen, wie Walter Brandecker in seiner Valier-Biografie Ein Leben für eine Idee berichtet, eine Meldung, die Fritz von Opel an die Presse lanciert hatte:
„Die bisherigen Versuche sind weit besser geglückt, als wir, Max Valier und ich, ahnen konnten. Wir sind darum in der Lage, schon in etwa drei Wochen den von Raketen getriebenen Wagen in Berlin auf der Avusbahn öffentlich vorzuführen. Allerdings wird dabei ein neugebauter Wagen verwandt, dessen Konstruktion die Erfahrungen, die wir bei der Probefahrt am vergangenen Mittwoch sammelten, berücksichtigen wird. Das Wesentliche aber ist für uns die rasche Übertragung des Wirkungsprinzips dieses Automobils auf den Betrieb eines Flugzeuges. Die günstigen Resultate, die wir gewonnen haben, ließen uns sofort Hand legen an den Bau eines derartigen Aeroplans. Wir hoffen, in etwa zwei Monaten schon soweit zu sein, um auch zu praktischen Versuchen mit dem Raketenflugzeug übergehen zu können.“
Zunächst aber stand die Fahrt auf der Avus an. Dazu ließ von Opel einen neuen Wagen konstruieren, den Opel Rak 2 Sander, ausgerüstet mit 24 (anstatt „nur“ 12) Raketen; Valier war an Entwicklung und Bau dieses Fahrzeugs nicht beteiligt, hatte sich aber an der Avus eingefunden, um der Fahrt beizuwohnen. Diesmal wollte es sich Fritz von Opel nicht nehmen lassen, den Wagen selbst zu steuern. Am 23. Mai 1928 steht der schwarz lackierte Wagen (dessen futuristisch-aggressives Design auch heute noch hinsehenswert ist) auf der Avus bereit. Die Zuschauertribüne ist vollbesetzt. Auch internationale Presse ist anwesend; die New York Times wird diese Fahrt auch an der amerikanischen Ostküste zu einem Gesprächsthema machen. Während der Wagen für den Start vorbereitet wird, ergreift Fritz von Opel das Wort für eine längere Rede. Er fragt das anwesende Publikum (und auch das abwesende an den Rundfunkgeräten): „Was soll nun die heutige Vorführung zeigen?“
Zunächst soll sie „ein lebendiger Beweis dafür sein, daß die Rakete als praktisches Antriebsmittel verwirklicht ist, sie soll zeigen, daß wir die technischen Erfordernisse beherrschen und daß wir Vertrauen zu der sicheren Entwicklung unserer Arbeit besitzen“. In kühnen, beinahe literarischen Bildern schildert er dann Valiers Etappenplan, an dessen Ende die Rakete in den Weltraum steht. Und so sei die bevorstehende Fahrt auch „Anfang und Ende der ersten Etappe“. Das Publikum spendet ihm für diese damals visionäre Rede, so Michael Graf Wolff Metternich, „tosenden Beifall“.
Die „bis heute beeindruckende Fahrt“ (Metternich) war zweifellos ein publizistischer Erfolg. Aber war es auch ein technischer im Hinblick auf die Raketenentwicklung? Fritz von Opel hing noch völlig groggy im Fahrersitz, als Max Valier schon Zweifel anmeldete. So bemängelte er die falsche Gewichtsverteilung des Wagens. Andere, etwa Diplom-Ingenieur H. Paul in einem Artikel vom 31. August 1928, stimmten ihm darin zu und fügten weitere gravierende Mängel des Fahrzeugs hinzu: die relative Lage des Schwerpunkts des Wagens sowie die Frage der Belastung der Vorderachse.
Bei Zündung der Raketen entsteht eine enorme Beschleunigung, die dazu führt, dass die Vorderachse noch oben steigt, der Wagen also an Bodenhaftung verliert. Die beiderseits hinter den Vorderrädern angebrachten Flügelspoiler dienten dazu, das zu verhindern oder zumindest zu minimieren. Geformt waren sie wie die Tragflächen eines Flugzeuges und montiert mit der konkaven Seite nach unten. Eine höhere Andruckwirkung hätte sich aber erzielen lassen, wenn sie, entgegen der Konvention, mit der konkaven Seite nach oben montiert worden wären.
Ähnlich undurchdacht war auch die Anordnung der Raketenbatterie im Verhältnis zum Schwerpunkt des Wagens. Wenn die Raketen zünden, ist es wichtig, dass der Punkt, an dem ihre Kraft wirkt, vor dem Schwerpunkt des Fahrzeugs liegt. Nur dann wird die Fahrt stabil, das heißt ohne „Schwimmen“ oder „Ausreißer“ ablaufen können. Beim Rak 2 lagen die Raketen jedoch am Ende des Fahrzeugs, was heißt, dass der Angriffspunkt ihrer Power beim Zünden hinter dem Schwerpunkt des Wagens lag. Das führte (natürlich) dazu, dass der Wagen ständig ausriss, dass er wie ein wassergesättigter Schwamm auf der Piste eierte, kurzum dazu, dass der Fahrer alle seine Energie darauf richten musste, den Wagen überhaupt nur auf Kurs zu halten. Und das erklärt, warum Fritz von Opel nach der Fahrt derart durch den Wind war.
Natürlich genoss er die unglaubliche Publicity, die ihm diese Fahrt – weltweit – bescherte. Und natürlich wurden daraus auch sehr erfolgreiche Werbekampagnen für die Adam Opel KG, die zumindest nicht hinderlich dabei waren, aus ihr die bis Ende 1928 erfolgreichste deutsche Automobilfirma zu machen. Bei Max Valier allerdings führten die Unzulänglichkeiten des Rak 2 dazu, dass er sich von Fritz von Opel trennte und eigene Wege ging.
Nur an den Vorbereitungen zum nächsten Raketen-Coup – diesmal in der Luft –, den Fritz von Opel ja schon im April angekündigt hatte, war Valier noch beteiligt, mit der eigentlichen Ausführung des ersten Raketenflugs hatte er dann nichts mehr zu tun.
Nach Rak 1 im April 1928 und Rak 2 im Mai 1928 sprach mittlerweile alle Welt von den deutschen RAKs (die deutsche Abkürzung für Rakete wurde praktisch ausnahmslos international übernommen). Knapp drei Wochen nach der Avus-Fahrt, war Fritz von Opel, diesmal „nur“ als Finanzier, auf der Wasserkuppe in der Rhön so weit; weder an der Konstruktion des ersten raketengetriebenen Flugzeugs war er nicht direkt beteiligt noch beabsichtigte er, als Pilot zu fungieren.
Die Wasserkuppe war seit 1920 das Mekka der deutschen Segelflieger. Der Versailler Vertrag hatte den Deutschen das Fliegen von Motorflugzeugen untersagt, deshalb war man sozusagen zu den Anfängen eines Otto Lilienthals zurückgekehrt, der die Theorie des modernen Flugwesens begründet hatte. Und zwar mit Flugapparaten, die sich mit Wind- und Muskelkraft begnügten. Und 1920 war auf der Wasserkuppe der erste Segelflugwettbewerb ausgetragen worden, der seither jedes Jahr die Segelflieger des ganzen Landes (und darüber hinaus) zusammenkommen ließ. 1924 wurde auf der Wasserkuppe die Rhön-Rossitten-Gesellschaft gegründet; die Flugschule des Flugvereins leitete der Testpilot Fritz Stamer; Chefkonstrukteur war Alexander Lippisch.
Am 12. Juni 1928 setzte sich Friedrich Stamer ans Steuer des Segelflugzeugs namens Ente, das vom Forschungsinstitut der Gesellschaft entwickelt und gebaut worden war. „Dieses Versuchsflugzeug sah sehr merkwürdig aus. Rumpf und Leitwerk befanden sich vorn, die Tragflächen hinten, so daß man den Eindruck hatte, es flöge rückwärts.“ Das wird mit der Bezeichnung Ente ausgedrückt; auf Englisch heißt eine solche Konstruktion Canard.
Im Heck waren zwei Feststoffraketen eingebaut, die je eine Schubkraft von 20 Kilogramm lieferten. Die Ente wurde per Gummiseil gestartet; in der Luft zündete Stamer zuerst eine, dann auch die zweite Rakete. Der Flug verlief einwandfrei, und so wurde ein zweiter Start gewagt. Bei diesem kam es jedoch zu „einem bestürzenden Zwischenfall: Die Maschine hob, vom Gummiseil gezogen, wieder gut ab. Stamer zündete sofort die erste Rakete und wartete gespannt auf den Brenneinsatz. Wieder spürte er den leichten Druck im Rücken. Aber nach zwei Sekunden setzte das Zischen kurz aus, und der ganze restliche Treibsatz explodierte mit lautem Krachen. Die vier Kilogramm Schwarzpulver wurden herausgeschleudert und steckten das Flugzeug in Brand.
Stamer behielt die Nerven. Er drückte das Flugzeug in einen leichten Sturzflug, um es in Fahrt zu bringen. Dadurch brachte der Fahrtwind die Flammen zum Abreißen. Nach geglückter Landung zündete die zweite Rakete durch einen Kurzschluß und brannte fauchend aus.“ Stamer konnte sich zwar gerade noch retten, das Flugzeug aber war zerstört. Die Rhön-Rossitten-Gesellschaft verzichtete daraufhin auf weitere Versuche mit Raketenflugzeugen.
Fritz von Opel wollte sich aber noch nicht so schnell geschlagen geben; er wandte sich an den süddeutschen Flugzeug-Ingenieur Julius Hatry und beauftragte ihn, eigens für ihn ein Flugzeug mit Raketenantrieb zu entwickeln und zu bauen.
Während der Wartezeit bis zur Fertigstellung dieses Flugzeugs wechselte von Opel von der Straße auf die Schiene: In der Versuchsabteilung der Opel-Werke ließ er mehrere Raketen-Schienenfahrzeuge bauen. Sein Ziel war es, den Weltrekord für Landfahrzeuge zu brechen, der allerdings bei 330 km/h lag. Die Fahrten sollten unbemannt erfolgen. Die Reichsbahn hatte nach einigen Verhandlungen einen eingleisigen Streckenabschnitt von rund 7 km nördlich von Hannover für die Experimente zur Verfügung gestellt. Am 28. Juni 1928 stand das erste Raketen-Schienenfahrzeug, Opel Rak 3 Sander, an der Strecke bereit; selbstverständlich waren wiederum Zuschauer, von über 20.000 war die Rede, sowie Vertreter von Presse und Rundfunk eingeladen.
Obwohl gleich beim Start eine Rakete explodierte, beeinflusste das die weitere Fahrt nicht: Opel Rak 3 legte zwei Kilometer zurück, bevor die Bremsraketen zündeten, und erreichte dabei eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 180 km/h und eine Höchstgeschwindigkeit von 280 km/h. Damit war zwar der Weltrekord für Landfahrzeuge im Allgemeinen nicht gebrochen, der für Schienenfahrzeuge, der bei 215 km/h gelegen hatte, aber schon. Der zweite Start, den man nach diesem (Teil-)Erfolg ansetzte, endete dann aber in einem Fiasko: Die gesamte Raketenbatterie explodierte kurz nach dem Start, was den Wagen 10 Meter in die Luft, dann auf den Hang schleuderte, wo er zerschellte.
Am 4. August 1928 war Fritz von Opel mit seiner Mannschaft wieder am gleichen Ort vertreten, mitgebracht hatte man Opel Rak 4 und Opel Rak 5. Nach dem Zünden der ersten beiden Raketen setzte sich Rak 4 „ungewohnt langsam“ (Metternich) in Bewegung: „Aber als dann eine der beiden Startraketen explodiert, gerät die gesamte Zündverkabelung durcheinander. Der hieraus herrührende Kurzschluß bringt die Ladung der restlichen 27 Raketen zur gleichzeitigen, schlagartigen Entzündung. Nur knapp 70 m hat der Schienenwagen zurückgelegt, als er mit einer gewaltigen Detonation 50 m hoch in die Luft geworfen wird, um dann wie Rak 3 am Böschungshang zu zerschellen.“
Trotz allem ließ Fritz von Opel auch Rak 5 an den Start bringen. Alles war zur Zündung bereit, als ein Landrat des für die Bahnstrecke zuständigen Landkreises sowie einige Herren der Reichsbahndirektion erschienen und einen weiteren Start untersagten. Sie hielten – nicht zu Unrecht, denn um den Unfallort hatte sich mittlerweile eine Zuschauer-Traube gebildet – die Sicherheit der Beteiligten sowie der Zuschauer nicht mehr für gewährleistet. Damit war Fritz von Opels kurze, aber sehr heftige Affäre mit raketengetriebenen Bodenfahrzeugen beendet.
Noch nicht ganz jedoch die mit raketenbetriebenen Flugzeugen. Im September 1929 hatte Julius Hatry den Bau des Opel-Sander RAK 1 fertig gestellt. Da von Opel mittlerweile den Flugschein gemacht hatte, beabsichtigte er, den Raketenflug selbst zu absolvieren, und so setzte er den Flug für den 30. September 1928 auf dem Frankfurter Flugplatz Rebstock an.
Gestartet wurde mit einem Startwagen, der seinerseits von Raketen angetrieben wurde. Der Wagen lief auf zwei Schienen; huckepack trug er das Flugzeug. „Der Startwagen“, so Brandecker, „schleuderte das Raketenflugzeug mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h über die Gleitbahn hinaus. Im selben Augenblick zündete Opel die ersten Schubraketen. Die Maschine stieg steil empor, eine lange Rauchfahne hinter sich herziehend. In 20, 30 Meter Höhe schoß das Flugzeug über den Platz. Opel zündete neue Raketen. Die Geschwindigkeit stieg auf etwa 150 km/h. In einer Rechtskurve erreichte Opel den nördlichen Rand des Flugplatzes und versuchte zu landen. Dabei mußte er noch einen erhöhten Straßendamm überspringen. Er versuchte, das Flugzeug hochzureißen, doch das gelang ihm nicht mehr. Der Rumpf bekam Bodenberührung und splitterte. Opel hing in den Anschnallgurten im Freien. Zum Glück blieb er unverletzt.“
Das war Fritz von Opels endgültig letzter Raketenstart. Bereits im März des Jahres 1929 hatten die Übernahmeverhandlungen mit General Motors in Detroit begonnen. Abgeschlossen wurde das Prozedere 1931 mit der vollständigen Übernahme der Adam Opel KG, wofür die damals sensationelle Summe von 154 Millionen Reichsmark bezahlt wurde. Fritz von Opel war an der Übernahme herausragend beteiligt und wechselte nach ihrer Vollziehung in den Vorstand. Damit blieb ihm keine Zeit mehr für Raketen-Experimente.
Max Valier schrieb ihm, quasi von Raketenmann zu Raketenmann, noch zu Lebzeiten einen wohlwollenden Nachruf:
„… soll nicht unterlassen werden, auch an dieser Stelle nochmals darauf hinzuweisen, daß es das unbestreitbare Verdienst Fritz von Opels gewesen ist, das Projekt des Verfassers aufgenommen, seine Tragweite erfaßt und seine Verwirklichung mit erheblichen Mitteln unterstützt zu haben …“
*
Nach seiner Trennung von Fritz von Opel suchte sich Max Valier einen neuen Raketenlieferanten. Er fand ihn in der Pulver- und pyrotechnischen Fabrik J. F. Eisfeld im Harz, deren Geschäftsführer, Hauptmann (der Reserve) Werner Meyer-Hellige, schon 1926 auf dem Firmengelände versuchsweise Feldbahnloren mit Raketen betrieben hatte. Valier rannte also offene Türen ein, als er vorschlug, ihm für seine Experimente Raketen sowie ein geeignetes Gelände zur Verfügung zu stellen.
Wie Fritz von Opel zur gleichen Zeit, verlegte sich auch Valier auf die Schiene. Dort, so schien er zu glauben, könne der Raketenantrieb vielleicht sinnvoll eingesetzt werden; in einem Artikel für die Berliner Zeitung sprach er von möglichen Höchstgeschwindigkeiten zwischen 500 bis 800 km/h (was aber immer noch viel zu langsam wäre, um Raketen effizient zu betreiben).
Im Unterschied zu von Opel hatte Valier klare Vorstellungen, wie ein Schienen-Raketenfahrzeug aufgebaut sein musste: Der Schub der Raketen muss vor dem Schwerpunkt des Wagens wirken; das Gewicht des Wagens muss möglichst gering sein, damit das Verhältnis der Gesamtmasse der Rakete zu ihrer Leermasse möglichst groß wird; die Bodenhaftung muss durch die aerodynamische Form garantiert sein (und nicht durch ein großes Gewicht, wie bei den Opel-Fahrzeugen); und es müssen möglichst viele kleine Raketen zu Batterien zusammengeschlossen werden, damit die Explosion einer Rakete möglichst wenig Schaden anrichtet.
Doch der erste, namenlose Versuchswagen, den er baute, litt vor allem daran, dass zu seinem Bau sehr wenig Geld zur Verfügung stand. Das Chassis bestand praktisch nur aus einem 2,5 Meter langen, 25 cm breiten und 22 mm dicken Brett. Die „Ladung“ aus acht Raketen mit je 22 kg Schub. Am 17. Juli 1928 wurde der Wagen vor ein paar geladenen Gästen gestartet, erreichte dabei eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h, sprang dann aber aus den Schienen und zerlegte sich.
Auch der zweite Wagen, Eisfeld-Valier Rak 1 genannt, mit diversen Verbesserungen versehen, ausgelegt für maximal 16 Raketen, stand bereits ein paar Tage später bereit. Der erste Start erfolgte mit sechs Raketen von je 24 kg Schub. „Für diese Fahrt“, so Metternich, „war ein Streckenabschnitt zwischen Stiege und Thalmühle, etwa 1 km vom Bahnhof Stiege entfernt, von der Harzbahn zur Verfügung gestellt worden. Der Versuch verlief reibungslos ohne irgendwelche Beanstandungen.“
Am 26. Juli nachmittags gegen 16 Uhr begannen die ersten Probefahrten vor Zuschauern (darunter auch Filmteams der UFA). Die erste Fahrt erfolgte mit zwölf Raketen, die zu je vier gezündet wurden. „Alles verlief so anschaulich und eindrucksvoll wie erhofft, und das Publikum zeigte sich hochzufrieden.“ Die nächste Fahrt brachte den Wagen auf 180 km/h, was die Eisfeld-Leute in Hochstimmung versetzte. „Jetzt wollte man es wissen, denn hier und heute lag die Chance, den absoluten Geschwindigkeitsrekord für Landfahrzeuge zu brechen, in greifbarer Nähe. So erhöhte man die Ladung um weitere sechs Raketen für die vierte Zündung.“
Und natürlich kam es, wie es kommen musste: Die ersten drei Zündungen von je vier Raketen im Abstand von zwei Sekunden beschleunigten den Wagen auf über 210 km/h. Die vierte Zündung der letzten sechs verbliebenen Raketen katapultierte den Wagen zwar noch auf eine Geschwindigkeit von (allerdings nur geschätzten) 300 km/h, doch konnte sich der Wagen nicht mehr auf den Schienen halten: Er entgleiste und zerlegte sich beim Sturz über die Böschung. Dem verbesserten Modell, das Valier daraufhin baute, erging es nicht besser: Die letzte Rakete, die gezündet wurde, „rutschte nach vorn gegen die Rückwand des Fahrersitzes, wo sie sodann explodierte“.
Valier wandte sich daraufhin von Schienenfahrzeugen ab und einer neuen Idee zu, nämlich dem raketengetriebenen Schlitten. Dieser bietet unbestreitbare Vorteile: Er hat keine beweglichen Teile (etwa Räder) und braucht, wie Valier schreibt, „nur so konstruiert zu werden, daß er die auftretenden Schubkräfte zu ertragen und vom Rumpf auf das Kufensystem zu übertragen hat“. Insgesamt gilt für einen Schlitten, „daß das raketentechnisch grundlegend wichtige Verhältnis des vollen Startgewichts zum Leergewicht [das Massenverhältnis] weit günstiger gestaltet werden kann“.
Valier ging mit dem Entwurf eines solchen Schlittens zum Bayerischen Automobil Club (der noch heute existiert); er schlug vor, dass er den Schlitten für das geplante Wintersportfest am 3. Februar auf dem Eibsee (zwei Kilometer südwestlich von Garmisch-Partenkirchen) baute, wofür er Sponsorengelder benötigte. Doch führten die Verhandlungen zu keinem Ergebnis. Und so musste Valier den ersten Schlitten mit den bescheidensten Mitteln bauen. „Die Mittel waren so knapp, daß Rak Bob 1, wie Valier das fertige Produkt nannte, von ihm nur in Dreiviertel der ursprünglich vorgesehenen Größe gebaut wurde und man sich in den Sitz geradezu hineinzwängen mußte.“
Ende Januar führte er auf dem schneebedeckten Schleißheimer Flugfeld einige unbemannte Testfahrten durch. Die acht Eisfeld-Raketen, mit denen der Wagen ausgerüstet war, erreichten eine Höchstgeschwindigkeit von 110 km/h. Bei der anschließenden bemannten Fahrt blieb der Schlitten allerdings nach 35 Meter im Schnee stecken; die erreichte Geschwindigkeit betrug nicht mehr als 30 bis 35 km/h.
Die erste Fahrt auf dem Eibsee im Rak Bob 1 unternahm Valiers Frau Hedwig. Der Wagen war mit sechs Raketen geladen. Hedwig Valier trug Pelzmantel und Sturzhelm. Die Zündung der Raketen verlief einwandfrei; der Schlitten kam rund 100 Meter weit und erreichte dabei eine Geschwindigkeit von 40 bis 45 km/h. „Nach dieser vielbeachteten Demonstration, setzte sich Valier selbst in den nun von zwölf Raketen angetriebenen Schlitten. Er brachte es bei seiner Fahrt binnen drei Sekunden auf 95 bis 100 Kilometer in der Stunde, bei der dritten Zündung allerdings, die den Schlitten noch weiter hätte beschleunigen sollen, platzten die Raketen auf, und das Gefährt kam frühzeitig zum Stillstand.“2
Nach diesem Zwischenfall, obgleich niemand zu Schaden kam, verzichtete Valier aus Sicherheitsgründen auf weitere Fahrten.
Sechs Tage später, am 9. Februar 1929, fand man Valier mit dem Nachfolgemodell Rak Bob 2 am Starnberger See, südlich von München. Gegen 16 Uhr wurde gestartet. Mit Zündung der ersten drei Raketen „durchfuhr der Bob aus dem Stand in 1 ½ sec. 20 m“, berichtet Wolff Metternich. Und weiter: „Mit der zweiten Zündung (4 Raketen) wurden in der gleichen Zeit 50 m zurückgelegt. Nach weiteren 1 ½ sec. erfolgte wieder eine Zündung von 4 Raketen, die den Bob in der gleichen Zeit über 80 m trieben. Bei der vierten Zündung, erneut 4 Raketen, steigerte sich die durchmessene Strecke auf 90 m und nach der letzten Zündung (3 Raketen) auf unglaubliche 210 m. Hier erreichte der Raketenschlitten 378 km/h. Da zu Ende der Brenndauer der letzten Raketen der Schub aber bereits nachließ, kann man eine Höchstgeschwindigkeit von etwa 400 km/h (!) unterstellen. Zündung und Fahrt verliefen zunächst einwandfrei, bis der Bob nach dem Abbrennen der letzten Raketen plötzlich einen Rechtsbogen einschlug, an das Seeufer schlidderte, einen Bootssteg streifte und hierbei seine Bugspitze einbüßte.“
Jener 9. Februar 1929 verlief also durchaus vielversprechend, doch Valiers Mittel waren danach erschöpft; es reichte nicht einmal dazu, den beschädigten Schlitten zu reparieren. Da sich kein Geldgeber fand, hatte Valier keine andere Wahl, als auch aus den Versuchen mit raketengetriebenen Schlittenfahrzeugen auszusteigen. Doch verfolgte er schon eine neue Idee.
Bei seinen Recherchen in den Münchner Bibliotheken war er auf eine Skizze aus dem 17. Jahrhundert gestoßen, die von Isaac Newton stammen soll. Auf einem Wagen steht ein kugelförmiger, mit Wasser gefüllter Kessel über einer Feuerstelle. Das Wasser im Kessel verdampft, und der Dampf tritt durch ein nach hinten gerichtetes Rohr aus dem Kessel aus, und der entstehende Rückstoß treibt den Wagen nach vorn. Valier nun rechnete nach – Dampfmenge, Ausströmgeschwindigkeit, Schubkraft – und fand, dass Letztere bei weitem nicht ausreicht, um den Wagen in Bewegung zu setzen.
Dem kann aber abgeholfen werden, wenn man eine andere Flüssigkeit als Wasser wählt, nämlich eine, deren Siedepunkt niedriger (sowie die Gaskonstante höher) liegt und die sich außerdem billig beschaffen lässt. Valiers Wahl fiel auf (gekühlte, also verflüssigte) Kohlensäure (CO2).
Um dieses neue Projekt zu verwirklichen, zog er im Sommer 1929 ins Ruhrgebiet, dem Zentrum der deutschen Industrie, in der Hoffnung, dort auf potente Industrielle zu treffen, die seiner futuristischen Unternehmung mit größerer Offenheit gegenüberstanden. Er quartierte sich im Bochumer Hotel Monopol ein.
Doch Sponsoren aufzutreiben, war auch im Ruhrgebiet nicht einfach, und so musste er zunächst mit einem Kleinkredit einer Münchner Gönnerin auskommen. Mit diesem Geld beauftragte er eine kleine Firma, die Schlosserei Aloys Möllers in Essen, nach seinen Plänen einen Wagen zu bauen, der ihm als Vorführwagen für den CO2-Antrieb dienen sollte. Der Wagen wurde am 28. September fertig gestellt und „hatte einen Radstand von 3,30 m und eine Spurweite von 1060 mm. Der Aufbau aus 5 mm starkem Sperrholz war 4,80 m lang und zwischen 60 und 67 cm breit. Die Höhe variierte zwischen 30 und 60 cm. Das primitive Fahrgestell aus hölzernen Längsträgern, geleimte Vierkanthölzer von 4 x 7 cm, erhielt durch mehrere, ebenfalls hölzerne Quertraversen die notwendige Versteifung. Auffallend an der äußerst einfachen Karosserie war der unmittelbar hinter den Vorderrädern angeordnete Fahrersitz mit hoher, stark gepolsterter Rückenlehne. Die spitzzulaufende und teilweise mit Schwarzblech beplankte Wagennase ragte etwa 1 m über die Vorderräder hinaus.“
Nach einer ersten Versuchsfahrt, die vor einem Vertreter der Verkehrspolizei und einem Sachverständigen des Dampfkesselüberwachungsvereins stattfand, um die Sicherheit des Fahrzeugs festzustellen, fuhr Valier bereits einen Tag später, am Sonntag, dem 29. September 1929, den Rückstoß-Versuchswagen, kurz Rak 4 genannt, vor (nicht sehr großem) Publikum. Wenige Wochen später, am 13. Oktober, konnte Valier das Fahrzeug bei einem Motorradrennen in der Gelsenkirchener Trabrennbahn vorführen. Vor 10.000 Zuschauern erreichte der Wagen immerhin eine Geschwindigkeit von 70 km/h.
Eine dritte Fahrt unternahm er mit einer leicht verbesserten Version des Rückstoß-Wagens, Rak 5, in Duisburg. Er hatte den dortigen Bürgermeister angeschrieben und mit dem Hinweis für sich geworben, dass „durch gelungene Versuche mit meinem Raketenfahrzeug durch die Presse, Bild- und Filmberichterstattungen auch ganz von selbst eine Reklame für die Stadt entsteht“. Der Bürgermeister, ein gewisser Dr. Jarres, ließ sich überzeugen und überwies Valier eine Summe von 300 Reichsmark.
Man hatte sich darauf geeinigt, keine Vorstellung vor großem Publikum zu geben; geladen waren neben Behördenvertretern lediglich Presse-Vertreter. Valier hatte das Ganze als „wissenschaftliche Versuchsfahrt“ deklariert und Zeit und Ort der geplanten Fahrt geheim gehalten. Als Schauplatz hatte man den schnurgeraden Kalkweg in Duisburg-Hamborn gewählt. Trotz der Geheimhaltung hatten sich aber schon zahllose Schaulustige eingefunden.
Die Fahrt selbst verlief, nach einem geglückten Start, immer kniffliger: „… die verdampfende Säure begann unter deutlichem Zischen aus der zentralen Rückstoßdüse als dichter weißer Schwaden zu entweichen. Mit einem eigenartigen Geknatter schoß der Wagen, nachdem Valier die Bremse gelöst hatte, sodann vehement die Asphaltbahn des Kalkweges entlang“, schildert Metternich den Beginn der Fahrt. Bald aber „begannen die Vorderräder gefährlich zu flattern, das Fahrzeug unkontrolliert zu schlingern und aus der Kontrolle zu geraten. Der Rückstoßer schoß von einer Straßenseite zur anderen und war nur mit Mut, Mühe und Geschick von Valier abzufangen, um nach bangen Sekunden durch Gegensteuern und Bremsen zum Halten gebracht zu werden.“
Grund für die Kalamitäten war, „daß man das instabile Fahrwerk mit seinen starren und ungefederten Achsen, der unpräzisen Lenkung und einer völlig unzureichenden Hinterradbremse, allzu sehr auf Sparsamkeit bedacht gebaut hatte“. Deshalb war es Valier auch nicht möglich, die Geschwindigkeit von 100 km/h wie beabsichtigt zu knacken; der Wagen erreichte aber immerhin 93,5 km/h Höchstgeschwindigkeit.
So (relativ) erfolgreich beide Vorführungen in Essen und Gelsenkirchen auch waren – selbst im Ruhrgebiet fand er keinen potenten Geldgeber, der seine weiteren Raketenexperimente unterstützt hätte. Valier ging also wieder einmal das Geld aus, und um neues zu beschaffen, unternahm er – von Berlin aus, wohin er wieder zurückgekehrt war – eine ausgedehnte Vortragsreise. Nach Abschluss der PR-Tour begann er, Rak 5 zu optimieren: Vor allem wurde im Bug Platz geschaffen für zwei zusätzliche CO2-Druckflaschen, außerdem der Fahrersitz zur Mitte hin verschoben, was die Lage des Schwerpunkts verbesserte.
Am 22. Dezember 1929 stand Valiers „neuer“ Wagen, jetzt Rak 6 genannt, vor der Nordkurve der Avus, dort, wo er anderthalb Jahre zuvor, am 23. Mai 1928, mit Rak 2 Aufsehen erregt hatte. Was ihm diesmal nicht gelang: Die Fahrt dauerte nur wenige Sekunden, umfasste kaum mehr als 1000 Meter und endete mit einer Geschwindigkeit von doch recht bescheidenen 40 bis 50 km/h. Beeindruckend war sie trotzdem: aufgrund des Lärms, den der Wagen produzierte, und der Schleppe aus dichten, weißen Kondensstreifen, die er hinter sich herzog.
Nach dieser Fahrt war Valier wieder einmal pleite. Aber schon im kommenden Jahr sollte sich seine Lage so weit ändern, dass er (endlich) die Arbeit an einem „echten“ Flüssigkeitstriebwerk aufnehmen konnte.