2. Das Ende Peenemündes

Am 31. Januar 1945 ließ Wernher von Braun, der Technische Direktor von Peenemünde Ost, wo die V2, die erste Großrakete der Welt, entwickelt worden war, die wichtigsten Werks- und Abteilungsleiter zusammenkommen, um ihnen mitzuteilen, dass Dr. Hans Kammler, SS-Obergruppenführer und direkt dem Reichsführer SS Heinrich Himmler unterstellt, die Evakuierung Peenemündes ins Mittelwerk bei Nordhausen, Thüringen, angeordnet hatte. Das Mittelwerk war eine Ende 1943 ausgebaute unterirdische Produktionsanlage für das letzte Aufgebot an Hightech-Waffen, mit denen sich das Deutsche Reich gegen die Niederlage stemmte. Neben der V2 wurden dort auch die V1, quasi eine autonome Drohne (die erste ihrer Art) und die Messerschmidt 262, der erste in Serie gebaute Düsenjäger, montiert.

„Am 17. Februar fand der letzte Abschuß einer A4-Rakete auf dem Versuchsstand P-7 statt“, so Ernst Stuhlinger. „Am selben Tag verließen der erste Zug und der erste von etwa tausend Lastwagen Peenemünde, beladen mit Raketenteilen, Geräten, Dokumenten und Personal. Sogar Lastkähne auf der Oder wurden für diesen Massenexodus eingesetzt. Was an Versuchsständen und Einrichtungen nicht abtransportiert werden konnte, wurde vernichtet.“

Als einer der Letzten verließ Dieter K. Huzel Peenemünde. Er war erst im Herbst 1942 als Ingenieur dazugestoßen und so etwas wie von Brauns „persönlicher Assistent“ (Stuhlinger). Er organisierte bis in den März hinein die letzten Transporte. „Allmählich“, beschreibt er die Lage der letzten Tage, „wurde es sehr still in Peenemünde; im krassen Gegensatz zu früheren Jahren lag jetzt eine seltsame, todernste Stimmung über dem Werk.“

Als Huzel in Bleicherode, wo die meisten der leitenden Mitarbeiter Peenemündes untergebracht waren, ankam, fand er sich „in einer früheren Landwirtschaftsschule“, wo man ein „äußerst primitives Hauptquartier eingerichtet“ hatte. „Von Ordnung konnte kaum die Rede sein. Wir konnten schließlich nicht das ganze Werk aus seiner Umgebung herausheben, es 200 Kilometer weiter wieder hinsetzen und dann erwarten, daß alles ohne Unterbrechung weiterlief.“

Das Mittelwerk in und um Nordhausen war von Kammler zwar zu einer „Entwicklungsgemeinschaft verschiedener Firmen gemacht“ worden, „die technologisch fortgeschrittene Waffen konstruierten, insgesamt wurde das ganze Unternehmen jedoch von nahezu jedem als völlig sinnlos angesehen. Angesichts der nahenden totalen Niederlage war die gesamte Szenerie wie in eine dunkle Wolke gehüllt. Von Braun leitete Besprechungen und erkundete Möglichkeiten, unter- oder oberirdisch die Arbeiten wiederaufzunehmen, es kann jedoch kaum bezweifelt werden, daß er dies größtenteils nur nach außen hin tat, um gegenüber der stets wachsamen SS Betriebsamkeit vorzutäuschen.“

Gottlob musste das nicht lange durchgehalten werden, denn „bald erreichten die schnell vorankommenden amerikanischen Panzerspitzen Thüringen“. Doch wollte Kammler sich noch nicht geschlagen geben: „Am späten Nachmittag des 1. April rief er Dornbergers Stabschefs zu sich“ – Walter Dornberger: bis vor Kurzem noch Leiter von Peenemünde Ost – „und befahl, 500 führende Raketentechniker in die Bayerischen Alpen zu evakuieren. Von Braun … wurde in das Ausweichquartier in Oberammergau gefahren, in dem sich bereits einige Messerschmitt-Mitarbeiter befanden. Dornbergers Stab folgte in einem eigenen Konvoi. Am 6. April verließ schließlich der Rest der Gruppe den ‚Mittelraum‘ in einem aus Schlafwagen zusammengestellten Eisenbahnzug.“
Vor dem Abzug aus Thüringen beauftragte Wernher von Braun Dieter Huzel damit, die technischen Unterlagen, die man aus Peenemünde mitgebracht hatte – mehrere Tonnen schwer –, irgendwo zu verstecken, denn „das Material“, so Huzel, „war einfach zu umfangreich, als daß wir es hätten mitnehmen können. Selbst wenn dies möglich gewesen wäre, bestand doch akute Zerstörungsgefahr durch Luftangriffe bzw. die Möglichkeit, daß es dem Feind in die Hände fallen könnte oder daß man es wegen Fahrzeugpannen hätte am Weg zurücklassen müssen.“

Immerhin waren diese Dokumente „von unermeßlichem Wert. Wer ihrer habhaft wurde, konnte damit die Raketenforschung von dem Punkt an fortsetzen, wo wir aufgehört hatten, wobei er nicht nur von unseren Errungenschaften, sondern auch von unseren Fehlern lernen konnte, einem hochwichtigen Teil der gesammelten Erfahrungen. Es war der Niederschlag jahrelanger, intensiver Forschung auf dem Gebiet einer völlig neuen Technologie, die – davon waren wir überzeugt – eine ungeheuer wichtige Rolle für die Zukunft der Menschheit spielen würde.“ Diese Papiere waren „eine geballte Ladung an wissenschaftlicher Information, wie sie in der Geschichte noch nie dagewesen war“.

Huzel instruierte also die diversen Abteilungen, ihre jeweiligen Unterlagen in halbwegs handliche Pakete zu schnüren. Mit drei Lastwagen, zwei davon mit Hängern, sammelte er und einige Helfer, die von Braun abgestellt hatte, die folgenden zwei Tage (und Nächte) die Akten ein. Von Braun hatte auch vorgeschlagen, mit den beladenen LKWs nach Clausthal-Zellerfeld zu fahren, wo sich das Oberbergamt (die höchste deutsche Bergbaubehörde) befand. Die wüssten vielleicht einen aufgelassenen Bergbaustollen oder eine Höhle, die sich als Depot eigneten.

Nach einigen Irr- und Umwegen – man brauchte mehrere Anläufe, um im allgemeinen Zusammenbruch einen Zuständigen zu finden –, stand man schließlich vor einem stillgelegten Stollen der Grube Georg Friedrich in Dörnten bei Goslar. Der Stollen war „am Ende einer kleinen Schlucht in den Fuß einer leichten Anhöhe eingetrieben. Schienen führten in die Dunkelheit. Man sah zwei Weichen für die Laderampe.“ Man benötigte eine weitere Nacht, um das Material von den LKWs in die Stollen zu verladen. Danach brach auch Huzel mit seinen Leuten in Richtung Südbayern auf.
Am 30. April 1945 verkündete der Reichsfunk die Nachricht vom Tod Adolf Hitlers, des Reichskanzlers und Führers (machte dabei aus dem Selbstmord ein heldenhaftes Sterben im Kampf) – womit das Deutsche Reich zu existieren aufhörte. Zwei Tage später, am 2. Mai, schickte von Braun seinen Bruder Magnus, der gut Englisch sprach, mit dem Fahrrad nach Reutte, um sich dort den Amerikanern auszuliefern. „Magnus“, so Stuhlingers Bericht, „traf in der Nähe des Ortes Schattwald auf amerikanische Truppen. Der Gefreite Frederick W. Schweickert aus Wisconsin stellte den ersten Kontakt her mit den Worten: ‚Komm, vorwärts mit die Hände hoch!'“

*

Mittlerweile war den Amerikanern das Mittelwerk in die Hände gefallen. Bevor Thüringen wie im Potsdamer Vertrag vereinbart der Sowjetunion übergeben werden musste, gelang es den Amerikanern, etwa 300 Eisenbahnwagons von Teilen der V2 sowie sämtliche der in Dörnten versteckten technischen Unterlagen über Entwicklung und Bau der Rakete in die Staaten zu verschiffen.

Im August 1945 trafen, nach mehreren Zwischenstationen und Umladeaktionen, die ersten Raketen und Raketenteile in White Sands ein, einem Versuchsgelände, das die Army erst ein Jahr zuvor in der Wüste von Texas, etwa 130 Kilometer nördlich von El Paso, eingerichtet hatte. In den letzten Kriegsmonaten hatten sich die Amerikaner zwar bemüht, so viele deutsche Raketenforscher zu „erbeuten“ wie möglich; außerdem präsentierten sie nach dem Ende der Geheimhaltung die German V-2 Rocket der Öffentlichkeit als beeindruckende Siegestrophäe – doch zeigte weder das Militär noch die Politik Interesse daran, die Raketentechnik weiterzuentwickeln. Denn mit dem Abwurf der ersten Atombomben über Japan war man 1. die einzige Nation der Welt, die über Atomwaffen verfügte und hatte 2. eine Flotte von Transportflugzeugen, mit der sich ohne großen Aufwand eine so schwere Waffe – die ersten Atombomben wogen vier bis fünf Tonnen – über praktisch jeden Ort der Welt abwerfen ließen. Während die V2, die größte bis dahin gebaute Rakete, lediglich eine Nutzlast von rund einer Tonne transportieren konnte, und das auch nur maximal 300 Kilometer weit. Wozu also, fragte man sich, sollte man in die aufwändige Weiterentwicklung einer neuen Technik investieren.

Deshalb mussten sich die Peenemünder zunächst damit begnügen, „amerikanisches Militär-, Industrie- und Universitätspersonal in die komplizierte Welt der Lenkraketen einzuführen. Sie sollten mithelfen, die von Deutschland nach White Sands verfrachteten Raketenteile zusammenzubauen, flugfertig zu machen und abzuschießen“. Doch schon vor dem ersten Start der V2 in der Neuen Welt – er fand am 16. April 1946 statt – hatten Einige, darunter der Schriftsteller Arthur C. Clarke in London und der Astronom Gerard Kuiper in Tucson, Arizona, erkannt, dass sich mit der V2 zwar keine Atombomben transportieren ließen, ihre Nutzlastkapazität der Wissenschaft aber fantastische Möglichkeiten bot.

Noch 1946 wurde das V-2 Upper Atmosphere Research Panel (V2-Forschungseinrichtung zur Untersuchung der Oberen Atmosphäre) gegründet. In den folgenden Jahren starteten insgesamt 70 V2-Raketen in den Wüstenhimmel von White Sands. Die meisten transportierten wissenschaftliches Gerät: zur Bestimmung des Temperatur- und Druckgradienten der irdischen Atmosphäre sowie ihrer Zusammensetzung im Einzelnen, zur Erforschung der Ionosphäre, zur Beobachtung der Sonne und Messung ihrer Röntgenstrahlung; daneben wurden (bei 18 Flügen) Fotos der Erdoberfläche gemacht (die ersten aus dem Weltraum), Meteoriten beobachtet, das Magnetfeld der Erde vermessen und einige biologische Untersuchungen durchgeführt.

Erstes Bild der Erde aus dem All. 
(© NASA)

Erstes Bild der Erde aus dem All, aufgenommen am 24. Oktober 1946 von einer Kamera an Bord einer V2 (© NASA)

Höhepunkt in der Entwicklung der Raketentechnik war der erstmalige Start einer zweistufigen Flüssigkeitsrakete: Als (schwere) erste Stufe fungierte die V2, auf die als (leichte) zweite Stufe eine WAC-Corporal-Rakete montiert wurde; die WAC Corporal war noch während des Zweiten Weltkriegs vom amerikanischen Heer entwickelt worden. Die Gesamtrakete nannte man Bumper. Im Februar 1949 stellte sie mit fast 400 Kilometern einen Höhenrekord auf, und im Juli 1950 startete sie als erste Rakete von Cape Canaveral aus.

Die USA fühlten sich sicher, sonnten sich im Gefühl technischer Überlegenheit und militärischer Unangreifbarkeit. Das änderte sich schlagartig am 29. August 1949, dem Tag, als die Sowjets auf einem Testgelände in der Nähe der kasachischen Stadt Semipalatinsk ihre erste Atombombe zündeten. Im Januar des folgenden Jahres griffen nordkoreanische (also kommunistische) Streitkräfte Südkorea an; Mitte September schalteten sich UN-Truppen, vornehmlich Amerikaner, in die Auseinandersetzungen ein. Und schon im Juli 1950 beauftragte das Office of the Chief of Ordnance (vergleichbar mit dem deutschen Heereswaffenamt) das Raketenteam um Wernher von Braun, das inzwischen nach Huntsville, Alabama, umgezogen war, eine Rakete mit einer Reichweite von mehreren Hundert Kilometer zu entwickeln. So entstand ab November 1950 die Redstone, die weltweit erste Mittelstreckenrakete, dazu bestimmt, Sprengköpfe zu transportieren, genau wie seinerzeit die V2 …