10. Aggregat 4 wird gebaut

Bereits ab Mai 1937 begann die Mannschaft um Wernher von Braun, die mittlerweile auf rund 80 Personen angewachsen war, nach Peenemünde umzuziehen. Nur Walter Thiel, zuständig für die Entwicklung des 25-Tonnen-Triebwerks für das Aggregat 4, blieb mit seinen Leuten noch bis Frühjahr 1940 in Kummersdorf, da Prüfstand 1, vorgesehen für Triebwerktests, nicht früher fertig gestellt werden konnte.

Zugangsplaketten für die verschiedenen Bereiche Peenemündes

Thiel, ein „brillanter, bisweilen aber etwas sprunghafter Chemiker“, wurde im Herbst 1936 in Dornbergers Raketenabteilung versetzt, was einen „Meilenstein auf dem Weg zur Fernrakete“ darstellte, denn „innerhalb von nur wenigen Monaten ergab sein analytischer und wissenschaftlicher Forschungsansatz, daß die gesamte bisher von Walter Riedel und Wernher von Braun betriebene Triebwerksentwicklung neu durchdacht werden mußte“.

Die Triebwerke, die man bis dahin in Kummersdorf entwickelt hatte – für die A1- bis A5-Raketen –, waren immer länger ausgefallen, um den Treibstoffen genügend Zeit zu geben, vollständig zu verbrennen. Doch Thiel konnte anhand zahlreicher Versuche ableiten, dass die Verweildauer des Treibstoffs (und damit die Effizienz der Verbrennung) nicht von der Länge der Brennkammer, sondern von deren Volumen abhängt.

Rechenschieber (statt Taschenrechner)

Das ermöglichte es, die Brennkammer des A4 als Rotationsellipsoid zu konstruieren. Rotationskörper haben das größte Volumen bei kleinster Oberfläche und bieten obendrein aufgrund ihrer Form die höchste Stabilität, was sie für hohe Brennkammerdrücke, das heißt hohe Gastemperaturen prädestiniert. Hohe Temperaturen sind nötig, um den ausströmenden Treibstoffgasen eine möglichst große Geschwindigkeit mitzugeben, denn der Schub einer Rakete ist umso höher, je größer die Ausströmgeschwindigkeit der Gase ist.

Damit das A4 eine Tonne Nutzlast 250 bis 300 Kilometer weit transportieren konnte – das war ja die Vorgabe –, musste das Triebwerk fast 200 Kilogramm der Antriebsstoffe (Alkohol/Wasser-Gemisch plus flüssigen Sauerstoff) pro Sekunde verbrennen. Mit einer zentralen Einspritzung, Vermischung und Zündung der Treibstoffe, wie bei den Triebwerken der A1- bis A5-Raketen, war ein so hoher Durchsatz nicht mehr zu gewährleisten.

Als Alternative schuf das Team um Walter Thiel ein Triebwerk mit Vorkammersystem, das heißt: Bevor die Treibstoffe in die Hauptbrennkammer gelangen, passieren sie zunächst einmal die Vorkammern, die sich am Brennkammerkopf (dem oberen Ende der Hauptbrennkammer) befinden. Eine Vorkammer, Einspritztopf genannt, ist „ein elementares, in sich selbständiges Einspritzsystem … Der kreisrunde Brennkammerkopf ist mit 18 solcher … Elemente bestückt, die auf dem flach gewölbten, konvexen Brennkammerkopf in zwei konzentrischen Ringen sitzen. Der äußere Ring ist mit zwölf, der innere mit sechs Töpfen besetzt. Jeder Topf enthält ein eigenes, komplettes Einspritzsystem.“ Der Brennstoff (Alkohol/Wasser-Mischung) wird zentral durch einen Pilzkopf über 24 Strahlbohrungen eingespritzt. Der flüssige Sauerstoff wird über sechs parallele Strahlbohrungen, die konzentrisch im Topfkonus angeordnet sind, eingespritzt. Erst nach dieser „Vorbrennung“ gelangen die Treibstoffe, bereits gut durchmischt, in die Hauptbrennkammer.

Mechanische Rechenmaschine

Durch die hohe Effektivität der Verbrennung konnte zwar die Ausströmgeschwindigkeit der Gase auf 2000 Meter/Sekunde gesteigert werden, doch ergaben sich dadurch auch neue Probleme. So lag die Temperatur in der Kammer bei rund 2.400 °Celsius; die regenerative Kühlung allein reichte nicht mehr aus, um die während der Brennphase des Triebwerks entstehende Wärme abzuleiten.

Wie bereits ausgeführt heißt Regenerative Kühlung, daß Kühlung nicht durch ein separates Kühlmittel erfolgt, sondern durch den Treibstoff selbst. Spiralförmig winden sich außen um die Brennkammer die Kühlkanäle, durch die der Treibstoff gepumpt wird, bevor er in die Brennkammer gelangt. Dieses System leitete aber nicht einmal ein Drittel der vom Triebwerk produzierten Wärme nach außen ab.

Im Sommer 1939 hatte Moritz Pöhlmann, Ingenieur im Thiel‘schen Triebwerksteam, die Idee zur so genannten Schleierkühlung: Durch vier Ringe an der Außenwandung der Brennkammer, ein jeder mit 90 bis 150 feinen Bohrungen versehen, sickert ein winziger Teil des Brennstoffs, das heißt der Alkohol/Wasser-Mischung, in die Brennkammer ein. Dort vermischt er sich jedoch nicht mit dem Treib- und/oder Sauerstoff, sondern wird durch den Innendruck der Verbrennungsgase als feiner Kühlfilm oder – daher der Namen – Schleier an die Innenwandung der Brennkammer gedrückt. Dieser Film wirkt als Wärmeisolator.

Das Triebwerk des Aggregat 4 wurde also auf zweierlei Weise gekühlt: Einmal von außen, indem der Wandung durch den kontinuierlich im Mantel strömenden Treibstoff Wärme entzogen wird, und zum anderen dadurch, dass die Brennkammer durch den Treibstofffilm an den Innenwänden von den erhitzten Treibstoffen isoliert wird. Dieses „doppelte Kühlungssystem wurde zum klassischen Konstruktionskonzept für Flüssigkeits-Raketenmotoren bis hin zur Saturn V“, der Mondrakete der 1960er Jahre.

Prüfstand 1 zum Test von Triebwerken

Der erste Testlauf eines komplett zusammengebauten A4-Triebwerks fand im Frühjahr 1940 auf dem gerade fertig gestellten Prüfstand 1 in Peenemünde statt. Und „am 15. September 1941 konnte schließlich der A4-Motor für die Versuchsserienfertigung freigegeben werden“.

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Ende 1941 hatte man also in Peenemünde die drei großen Probleme des Raketenflugs – die Aerodynamik der Zelle, das stabile Brennen des Triebwerks sowie die Steuerung und Navigation der Rakete – gelöst und konnte Anfang 1942 mit den ersten Teststarts des Aggregat 4 beginnen.