12. Peenemünde & Stalingrad

Die Blitzkriegsstrategie, mit der in gerade einmal anderthalb Jahren fast ganz Europa erobert worden war, schien zunächst auch gegen die Sowjetunion zu greifen. Nach dem Angriff am 22. Juni 1941 (Unternehmen Barbarossa genannt), standen die deutschen Armeen bereits Mitte Oktober 1941 vor den Toren Moskaus. „Vom 16. bis 18. Oktober herrschte in der sowjetischen Hauptstadt Panik und beinahe schon Anarchie: Parteimitglieder zerrissen die Parteibücher, Soldaten warfen die Gewehre fort, Läden wurden geplündert, die Regierung verließ die Stadt.“ Die meisten Staaten des Westens hielten einen Sieg der Deutschen über die Sowjetunion für wahrscheinlich, namentlich „so gut wie niemand in England und Amerika glaubte und konnte glauben, daß die Sowjetunion aus eigener Kraft Deutschland länger als einige Monate würde Widerstand leisten können“.

Doch dann brach, sehr viel früher als gewöhnlich, der russische Winter herein, und „die Deutschen hatten nicht mehr nur Soldaten und schlechte Wege zu Feinden, sondern eine übermächtige und ungewohnte Naturgewalt, die das Öl in den Motoren der Panzer erstarren und manchmal die Gewehre an den Händen der Infanteristen festfrieren ließ“. Und der Luftwaffe erging es nicht besser: „nur 15 Prozent der 100.000 Luftwaffenkraftfahrzeuge … funktionierten Anfang Januar 1942 noch“.

Zwar kam der deutsche Vormarsch zum Stillstand, doch brach die Front, von einigen Rückschlägen abgesehen, nicht zusammen. „Es war“, so Ernst Nolte, „Hitler und allem Anschein nach er allein, der nach der Übernahme des persönlichen Oberbefehls über das Heer am 19. Dezember durch außerordentliche Willenskraft und rücksichtslose Durchhaltebefehle die Front im wesentlichen an den Stellen festhielt, wo sie stand.“

Als die Deutschen im Mai 1942 die Offensive wieder aufnahmen, ging der Siegeszug weiter. Und beim Start des fünften Versuchsmusters von Aggregat 4 (A4 V5) am 21. Oktober 1942 hatte das Deutsche Reich seine größte Ausdehnung und Macht erreicht: Europa war von der Nordsee bis zum Schwarzen sowie Mittelmeer (einschließlich großer Teile Nordafrikas), von den Pyrenäen bis zur Wolga deutsch besetzt oder mit Deutschland verbündet.

Aber der Flug von Versuchsmuster 5 konnte, obwohl die erreichte Entfernung 147 km betrug, nicht als Erfolg verbucht werden. Die Treibstoffförderung sank ab der 18. Flugsekunde kontinuierlich ab, sodass der Brennschluss irregulär erst in der 84. Sekunde erfolgte. Der Fehler konnte nicht sicher ermittelt werden, da die Messwerterfassung in der 40. Flugsekunde ausgefallen war; vermutlich lag er in einer Fehlfunktion der Treibstoffturbine.

Als am 9. November 1942 Aggregat 4 Versuchsmuster 6 in Peenemünde startete, stand die 6. Armee unter Generalmajor Friedrich Paulus vor Stalingrad. Einen Tag zuvor hatte Hitler im Münchner Bürgerbräukeller siegessicher verkündet: „Wir haben Stalingrad schon.“ Am 13. November war die Stadt tatsächlich fast vollständig von den deutschen Truppen erobert, doch am 19. November startete die Gegenoffensive der Sowjets, und bereits am 22. November 1942 war die 6. Armee (sowie zwei rumänische und die 9. Flakdivision der Luftwaffe) in Stalingrad eingekesselt. Am Abend desselben Tages befahl Hitler: „Die 6. Armee igelt sich ein und wartet Entsatz von außen ab.“

Der Aufstieg von Versuchsmuster 6 war zunächst erfolgreich verlaufen. Lediglich das Triebwerk arbeitete nicht ganz regelmäßig. Dadurch kam es aber schon nach 53,5 Sekunden zum Brennschluss. Außerdem funktionierte das Umlenkprogramm, das die Rakete aus der Senkrechten auslenkt, nicht, wodurch die Rakete zwar steil in den Himmel stieg, aber nur eine Entfernung von 14 km erreichte.

Beim Start von Aggregat 4 Versuchsmuster 7 knapp drei Wochen später (am 28. November 1942) liefen noch die Vorbereitungen zur Befreiung der 6. Armee. Die Rakete geriet beim Aufstieg ins Taumeln, nach 37 Sekunden erfolgte irregulärer Brennschluss, schließlich brachen die Flossen ab und die Rakete stürzte weniger als 10 km vom Startplatz entfernt in die Ostsee.

Am 10. Dezember 1942 besuchte Reichsführer SS Heinrich Himmler zum ersten Mal Peenemünde. Im Jahr 1942, das sich dem Ende näherte, begann sich für das Deutsche Reich bereits die Wende abzuzeichnen. So konnte durch Hitlers „außerordentliche Willenskraft“ zwar die Front in Russland gehalten werden, aber die zahlreichen Städte, die sie hielten – Schlüsselburg, Nowgorod, Rschew, Wjasma, Brjansk, Orel, Kursk, Charkow und Taganrog –, waren abgeschnitten und mussten aus der Luft versorgt werden. Das führte zu einer enormen Belastung der deutschen Luftwaffe: „Wegen des schlechten Wetters mußte eine übermäßige Zahl von Flugzeugen eingesetzt werden, um Nachschublücken zu decken – manchmal mußten über 300 Transportmaschinen am Tag fliegen, um ein einziges Armeekorps zu versorgen. Die Notwendigkeit, Lufttransporte solchen Ausmaßes für eine ganze Kette isolierter vorgeschobener Stellungen zu stellen, überlastete die Lufttransportorganisation der Luftwaffe, und auch der Abzug flugerfahrener Einheiten auf andere Kriegsschauplätze beschränkte deren Kampfkraft an der russischen Front.“

Und in der Heimat, im deutschen Kernland, geriet man zunehmend unter Druck, nachdem das britische Luftfahrtministerium am 14. Februar 1942 in einer Direktive dem Bomber Command mitteilte: „Es ist entschieden, daß das Hauptziel Ihrer Operation jetzt auf die Moral der gegnerischen Zivilbevölkerung gerichtet sein sollte, insbesondere die der Industriearbeiterschaft.“ Bis dahin wurden – auf beiden Seiten – zivile Ziele nicht vorsätzlich angegriffen. „Es wurden Flugplätze, Flugzeugwerke, Docks, Hafenanlagen, Werften zerstört … Die politischen Führungen allerdings wußten, daß ihre Waffe Produktion und Produzenten, Industrie und Stadt, Industrie und Industriearbeiterkind nicht unterschied.“

Arthur Harris, der am 22. Februar mit der Leitung von Bomber Command betraut wurde und „der ein starrsinniger und zugleich ganz dem Praktischen zugewandter Mann war, schlug eine Stadt zur Verbrennung vor, die den Erfolg garantierte: Lübeck. Erstens lag es neben dem einprägsamen Küstenprofil der Lübecker Bucht. Zweitens beheimatete es keine kriegswichtige Industrie und war darum schwach verteidigt. Drittens enthielt es einen in Fachwerk gehaltenen Altstadtkern, der leicht brannte. Das waren die Gründe für Lübecks Zerstörung: seine Lage, seine Schwäche und seine Altersschönheit.“7 In der Nacht zum Palmsonntag, einer Vollmondnacht, schickte Harris 234 Maschinen beladen mit 400 Tonnen Bomben über die Stadt. Am Ende des Angriffs waren 62 % aller Gebäude, das heißt rund 800.000 m2 Altstadt ausgebrannt; 320 Menschen starben. Im Laufe des Jahres 1942 folgten noch Rostock, Osnabrück, Essen, Saarbrücken, Neuss, Düsseldorf, Mainz und München.

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Am 12. Dezember startete das nächste Versuchsmuster des A4; der Start endete nach nur 4 Sekunden mit der Explosion der Rakete. Am selben Tag startete auch die Befreiungsoffensive der Heeresgruppe Don unter dem Oberbefehl des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein. Teile der Heeresgruppe Don, das heißt zwei Panzerdivisionen, rückten auf Stalingrad vor, um sich dort – so der Plan – mit ausgebrochenen Teilen der 6. Armee zu vereinigen. Diese Unternehmung (Donnerschlag genannt) wurde von Hitler aus strategischen Gründen jedoch verweigert. In den Weihnachtstagen kam der Vormarsch der 4. Panzerdivision daraufhin knapp 50 km vor Stalingrad zum Erliegen. Der „Entsatz von außen“ war also gescheitert, die 6. Armee auf sich allein gestellt.

Die Luftwaffe konnte die noch Mitte November von Hermann Göring zugesagten täglichen Materiallieferungen nicht einhalten. Was nicht nur daran lag, dass zu wenige Maschinen zur Verfügung standen; es war auch das Wetter, das den Deutschen wieder zu schaffen machte: Temperaturen um minus 30° Celsius, ein Dauer-Sturm mit Windgeschwindigkeiten um 100 km/h, mannshohe Schneewehen, die es Flugzeugen schwer machte zu landen.

Als am 7. Januar 1943 das Versuchsmuster 10 startete – es explodierte wenige Sekunden nach der Zündung – war die Situation bereits verzweifelt. „In Stalingrad“, so David Irving, „begannen die Truppen des Generals Paulus zu hungern; sie verschlangen die wenigen noch vorhandenen Pferde.“ Und beim Start von Versuchsmuster 11 am 25. Januar 1943 – das Umlenkprogramm versagte ein weiteres Mal und die Rakete kam nur 105 km weit – bestand keine Hoffnung mehr für die 6. Armee.

„Die Verteidigung … wurde jetzt ernstlich durch die 30.000 bis 40.000 Verwundeten behindert, die unversorgt in den Ruinen lagen“, so Irving. „Die Lebensmittelbestände waren so geschrumpft, daß Paulus befehlen mußte, Verwundeten und Kranken keine Rationen mehr zu geben, damit die noch kampffähigen Soldaten weiterkämpfen konnten.“

Am 19. Januar hatte Paulus gegenüber einem Offizier, der nach Stalingrad eingeflogen worden war, um die Lage persönlich in Augenschein zu nehmen, bemerkt: „Wir sprechen bereits aus einer anderen Welt zu Ihnen, denn wir sind tot. Von uns bleibt nichts anderes übrig, als was die Chronik noch über uns schreibt.“

Am 2. Februar wurden die Kampfhandlungen eingestellt. Rund 100.000 deutsche Soldaten gingen in russische Gefangenschaft (die nur 6.000 überlebten).

Stalingrad war der Wendepunkt des Krieges; was auch von der ganzen Welt, von deutschen Verbündeten ebenso wie von alliierten Feindmächten, so empfunden wurde. Deutschland war besiegt (konnte die Niederlage bestenfalls hinauszögern), und noch vor der Kapitulation der 6. Armee forderte Franklin D. Roosevelt auf der Konferenz von Casablanca Mitte Januar 1943 die „bedingungslose Kapitulation“ Deutschlands. Die danach zum Kriegsziel der Alliierten wurde – sozusagen zur alliierten Variante des Endsiegs; das engte den Handlungsspielraum der Hitler-Gegner ein, die selbst in der eigenen Generalität nicht gering an Zahl waren, und führte letztlich, so Liddell Hart, zu einer „unnötigen Verlängerung des Zweiten Weltkriegs“, die letztlich nur Stalin nützte – „indem sie den Weg für die kommunistische Beherrschung Mitteleuropas ebnete“.