11. In den Himmel über Peenemünde
Im Januar 1942 war das erste flugfähige Aggregat 4 fertig gestellt. Es wurde „in den Prüfstand 1 eingehängt und … durch Festklammern befestigt“. Am Abend des 30. Januar wurde das Aggregat betankt, um es für einen Testlauf am nächsten Tag vorzubereiten. Aber im Laufe der Nacht rutschte die Rakete infolge des zusätzlichen Gewichts aus der Halterung und stürzte etwa zwei Meter in die Tiefe, wo sie mit den Stabilisierungsflossen gegen die Prüfstandsbühne prallte. Alle vier Flossen wurden beschädigt, ebenso die Aufhängung des Brennstofftanks in der Raketenzelle. Die Reparaturarbeiten dauerten bis März; dann wurde das Aggregat 4, Versuchsmuster 1 (A4-V1) in Prüfstand VII eingehängt.
Am 18. März 1942 „wagte der Prüfstandleiter, ohne Genehmigung des Leiters der Versuchsabteilung, den ersten Brennversuch des V1 zur Steuerungserprobung. Durch einen Bedienungsfehler entstand eine schwere Heckexplosion mit starken Schäden am Gesamtaggregat.“ Die entstandenen Schäden waren so groß, dass sich eine Reparatur der Rakete nicht mehr lohnte. Daher wurden die noch brauchbaren Teile ausgebaut und den Werkstätten zugeführt, um das nächste Exemplar des Aggregat 4, das Versuchsmuster 2, zusammenzubauen.
Anfang Juni 1942 begannen die Testläufe dieses zweiten Versuchsgeräts (A4-V2) im Prüfstand VII, die alle zufriedenstellend verliefen. Der Start erfolgte am 13. Juni in Anwesenheit einiger hoher Herren der deutschen Führung, unter anderem Albert Speer, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, und Generalfeldmarschall Erhard Milch, Schöpfer der Luftwaffe und zweiter Mann im Reichsluftfahrtministerium. Ersterer gehörte zu den Unterstützern des A4, Letzterer eher zu den Skeptikern des Projekts.
Schon bevor sie nach wenigen Sekunden in der niedrigen Wolkendecke verschwand, konnte man erkennen, dass die Rakete in Rotation um die Längsachse geraten war. Nach etwa einer halben Minute, die Rakete war noch immer hinter Wolken verborgen, wurde es plötzlich bedenklich still: Das Triebwerk hatte offenbar viel zu früh abgeschaltet. Als die Rakete dann über der Wolkendecke wieder sichtbar wurde, hatte sie sich bereits in die Waagerechte gelegt; die Stabilisierungsflossen waren abgebrochen.
Die Ursache des Versagens lag im Versagen des Drallkreisels. „Dadurch entstand, wenige Sekunden nach dem Start, das Drallen um die Längsachse der Rakete. Im Überschallflug verursachte der Drall wahrscheinlich die Taumelbewegung der Rakete, die schließlich so intensiv wurde, daß die Flossen abbrachen. Diese Taumelbewegung war vermutlich für das Ausfallen der Bordbatterie verantwortlich, wodurch der Brennschluß ausgelöst wurde.“
Obgleich insgesamt ein Fehlschlag, war es mit Aggregat 4 Versuchsgerät 2 erstmals gelungen, einen Flugkörper über die Schallmauer hinaus zu beschleunigen (bis dahin bewegten sich nur Geschosse, etwa Kanonenkugeln, schneller als der Schall).
Das dritte Versuchsmuster des Aggregat 4 (A4-V3) startete am 16. August 1942; 25 Sekunden nach dem Abheben durchbrach es die Schallmauer. Bis dahin war der Flug „völlig einwandfrei“ (Reisig) verlaufen. Das blieb noch weitere 12 Sekunden so, dann fiel plötzlich – in der 37. Flugsekunde – die Beschleunigung um 30 Prozent ab. In der 45. Flugsekunde, kurz nach Erreichen von Mach 2, kam es zum vorzeitigen Brennschluss des Triebwerks. Vom Boden aus konnte man erkennen, wie der obere Teil der Rakete, das heißt die Nutzlastspitze samt der Gerätekammer, abbrach. Dann explodierte die Zelle.
*
Nach diesem dritten Fehlschlag des Aggregat 4 im August 1942 machte sich in Peenemünde so etwas wie Nervosität breit. Ausdruck fand das zum Beispiel in einer Denkschrift, die General Walter Dornberger im September 1942 verfasste; die Vorbereitungen zum Start des vierten Versuchsmusters von Aggregat 4 liefen da bereits. Darin stellte er fest, dass „der Führer nicht an einen Erfolg des Gerätes A4 glaubt“, dass „der Reichsminister [Albert Speer] an dem Erfolg zweifelt“, und dass der Chef der Heeresrüstung [Friedrich Fromm] „das Vertrauen in die termingerechte Erledigung unserer Aufgabe verloren hat, weil wir jetzt trotz aller Versprechungen noch keinen Weitschuß erzielt haben“. Er machte mehrere Vorschläge, wie diesen um sich greifenden Zweifeln an den Erfolg Peenemündes zu begegnen sei, darunter vor allem die Zurückstellung sämtlicher anderer (nicht kriegstauglicher) Projekte, die man bis dahin in Peenemünde zahlreich verfolgt hatte.
Der Start von Versuchsgerät 4 verzögerte sich „infolge widriger Wetterverhältnisse und anderer Schwierigkeiten“ mehrmals, aber am 3. Oktober 1942 gegen 16 Uhr bei „herrlichem Herbstwetter“ startete Aggregat 4 Versuchsgerät 4 (A4-V4) endlich in den Himmel über Peenemünde …
Es war ein „Bilderbuch-Raketenflug“, so Gerhard Reisig, der dabei war. In trockenem Ingenieurs-Deutsch fährt er fort: „Das Umlenken der Rakete [aus dem senkrechten Aufstieg] in die Zielrichtung erfolgte zeitlich programmgemäß. Die von den vorhergehenden Erprobungsflügen gefürchtete Dralltendenz der A4-Rakete um ihre Längsachse war voll ausgesteuert [d. h. man hatte sie unter Kontrolle]. Der Start konnte mittels einer Fernsehverbindung in der Versuchsleitung im Großen Meßhaus bildlich beobachtet werden. Der nicht mehr sichtbare Teil der Flugbahn blieb durch den Dopplerton gegenwärtig [Pfeifton, dessen Tonhöhe von der Geschwindigkeit der Rakete abhing], der aus einem an die Bodenstation angeschlossenen Lautsprecher in der Versuchsleitung zu hören war. Der Ton stieg und stieg … Nach 58 sek Flugzeit nahm die Tonhöhe unvermittelt ab: Brennschluss! Die Tonhöhe sank weiter bis zur Gipfelhöhe des Raketenflugs und stieg danach wieder an mit der zunehmenden Fallgeschwindigkeit der Rakete. In der 269. Flugsekunde brach der Dopplerton [wegen der Erdkrümmung und der begrenzten Reichweite des Senders] ab.“
„Für diesen Tag“, schreibt Walter Dornberger, der damalige Chef Peenemündes, später, „hatten wir zehn Jahre gearbeitet … Ich schäme mich nicht zu bekennen, daß ich Tränen der Freude fühlte. Der Versuch war gelungen. Wir hatten zum ersten Mal in der Geschichte der Rakete einen automatisch gesteuerten, strahlgetriebenen Flugkörper am gewünschten Brennschlußpunkt bis zum Rand der Atmosphäre gebracht und in den praktisch luftleeren Raum geschickt.“
Womit er nur umständlich ausdrückt, was er meint: Peenemünde – und damit die Menschheit – hat an diesem Tag und zu dieser Stunde erstmals den Weltraum erreicht.
Es versteht sich von selbst, dass man dieses Ereignis spät am Abend gebührend feierte. Dabei hielt Dornberger eine „Lobrede“, wie er selbst es bezeichnet. Sein Fazit (gleichzeitig ein Ausblick in die Zukunft): „Wir haben bewiesen, daß der Raketenantrieb für die Raumfahrt brauchbar ist. Neben Erde, Wasser und Luft wird nunmehr auch der unendliche leere Raum Schauplatz kommenden, kontinenteverbindenden Verkehrs werden und als solcher politische Bedeutung erlangen können. Dieser 3. Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeitalters neuer Verkehrstechnik, dem der Raumschiffahrt …“
Noch deutlicher sagt es Gerhard Reisig im Rückblick über 50 Jahre später: „Wenn heute vom tatsächlichen Beginn der Raumfahrtära die Rede ist, wird fast immer der Sputnik-Flug am 4. Oktober 1957 als Stichdatum genannt. Unbenommen der hohen raumfahrttechnischen Leistung der ersten Umkreisung des Planeten Erde durch den sowjetrussischen Flugkörper war dies aber keineswegs der erste künstliche terrestrische Körper überhaupt, der aus der Erdatmosphäre in den planetaren Raum, also in das Gebiet der Erdumgebung, hinaustrat, in dem die Atmosphäre kein Gaskontinuum mehr darstellt … Denn das markante Erstereignis der Raumfahrt fand bereits 15 Jahre vor dem Sputnik-Flug statt …“
Nämlich an jenem 3. Oktober 1942 in Peenemünde.